Michael Seeger Rezensionen Forum

Der Tangospieler

Erzählung

Suhrkamp Ffm (ST 3477) 1989/2002, 182 Seiten, 8,00 Euro

ISBN: 978-3-518-39977-4

gelesen März 2020

cover

Von allem Anfang an

Trutz

Tangospieler

In seiner frühen Kindheit ein Garten

Verwirrnis

Ein Wort allein für Amalia

Das Napoleon-Spiel

 

Christoph Hein

 

 

 

In seiner frühen Kindheit

ein Garten

Roman

Suhrkamp Ffm (ST 3773) 2005, 182 Seiten, 9,00 Euro

ISBN: 978-3-518-45773-X

gelesen April 2020

Gelähmt

Neben grandiosen Texten landet Hein auch mal einen Flop.

 

Der promivierte Historiker Dallow kommt 1968 nach 21 Monaten Haft zurück nach Leipzig und findet nicht mehr den Anschluss an das Leben. Seine negative Haltung allen Hilfestellungen gegenüber, seine Lethargie, sein Sich-Gehenlassen legt sich als Langeweile auch über den Leser, ohne ihn fesseln oder interessieren zu können. Das liegt zum einen an einer Figur, die keinerlei Entwicklung aufzeigt, zum andern an der kaum verständlichen erzählerischen Schwäche des sonst von mir so hoch gehandelten Autors.

Die Haft war einer DDR-typischen Schikane geschuldet. Der Wissenschaftler springt als Pianist bei einem Studentenkabarett ein und begleitet den Tango "Adios Muchachos" (S. 75), was das Gericht als Verächtlichmachung der (senilen) Staatsführung inkriminiert. Dallow will nach seiner Haftentlassung keine "Normalität", keine Bagatellisierung, keine Entschuldigung, keine Hilfe, schon gar nicht von "Müller und Schulze", zwei blass bleibenden Stasitypen. Das und die repressive Rezeption des Prager Frühlings sind auch schon das einzige, woran man den locus fabulae in der DDR verorten kann. Liegt das daran, dass Hein die Erzählung nach der Wende im Rückblick auf das Jahr 1968 geschrieben hat?

Jedenfalls begegnet uns hier eine lockere DDR, wie wir sie weder aus der Historie noch aus dem Werk Heins kennen. Dallow besitzt ein Auto samt Garage, ein Auto, das auch nach 21 Monaten sofort anspringt. Jede Person in der Erzählung verfügt über einen funktionierenden Telefonanschluss. Es wimmelt nur so von Gasthäusern (wo man nicht auf Platzierung warten muss) in Leipzig und auch auf dem Dorf, wo Dallows Vater als Privatbauer einen Hof betreibt.

Lichtblick in der Erzählten Zeit ist das Restaurant Klausner auf Hiddensee, das wir ja schon aus Seilers Kruso kennen. Wieso der Held allerdings von dort auf einmal Hals über Kopf abreist, um die von Silvia angebotene Stelle als Dozent an der Uni Leipzig anzunehmen, bleibt ebenso ein Rätsel, wie die Fähigkeit Dallnows, ungezählte Frauen/Mädchen ins Bett zu kriegen. Sein Mantra "Ich will nichts vergessen, und ich will nichts verzeihen" (S. 161) scheint im Klausner auf Hiddensee wie weggefegt. Weil der Casaniova jede Nacht Frischfleisch bekommt?

Woher diese Leichtfertigkeit der Mädchen? Dallow kommt zur banalen Erkenntnis, "daß diese Mädchen zu einer anderen Generation gehörten". (S. 174)

Ist das der Geist von 68, der da nicht nur durch die CSSR, sondern auch die DDR weht?

Michael Seeger, 30. März 2020

 

Querulant?

Fiktive Aufarbeitung des Rechtsstaatsskandals von Bad Kleinen

 

Das ist quasi das westdeutsche Pendant zum "Tangospieler". War es dort der Unrechtsstaat DDR, der den Protagonisten ins Abseits stellt, ist es hier der rechtsstaatliche Sündenfall des vereinten Deutschland, der hier am Pranger steht. Mehr schon denn als Chronist tritt der Erzähler Hein hier quasi als Historiker auf, der in der Fiktion das Unrecht rächt, welches dem mutmaßlichen Terroristen Oliver Zurek und dessen unermüdlich nachforschenden Vater Richard widerfährt. Es handelt sich um eine realistische Aufarbeitung des GSG-9-Einsatzes vom 27. Juni 1993 um die Festnahme und den Tod des RAF-Terroristen Wolfgang Grams.

Hat Hein im "Tangospieler" einen erzählerischen Flop gelandet, so bringt er es auch hier nicht über ein seichtes Mittelmaß.

Da sind zunächst Ungenauigkeiten und Fehler zu monieren. Beim Tatort Bad Kleinen lässt er den Bäderzusatz weg. Die GSG-9 des Bundesgrenzschutzes wird bei Hein zur "Grenzpolizei". Ob da noch die "Grenztruppe" von Heins Herkunftsstaat dem Autor durch den Kopf spukt? Der ehemalige Gymasialdirektor, die Hauptperson des Romans, wird "Rektor" genannt (S. 115). Das boulevardeske Kapitel 17 um die ehemalige Affaire mit der Geliebten Suse ist so überflüssig wie aufschlussarm.

So versessen der Protagonist Dallow im Tangospieler sich einer Wiedereingliederung verweigert, so obsessiv versucht Richard Zurek seinen getöteten Sohn zu rehabilitieren. Für seinen Frieden braucht es der Vater, dass der Sohn weder sich selbst noch einen Polizisten erschossen hat. All seine rechtsstaatlich unternommenen Versuche scheitern, müssen scheitern! Wann schon gewinnt ein Bürger einen Prozesss gegen den Staat?

Zureks Weg erinnert stark an Kleists Michael Kohlhaas, das Gespräch mit dem Pfarrer an Luthers Ansprache an den Rosshändler.

Unglaubwürdig, geradezu kitschig wirkt das Ende, wenn der ehemalige Gymnasialdirektor mit seinem Staat bricht:

">Da der Staat aber seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden<.
Richard Zurek hob seine rechte Hand in die Höhe und sagte feierlich: >Vor Ihnen allen als meinen Zeugen: Ich widerrufe hiermit meinen Eid<." (S. 268) Dies spricht Zurek an einem Freitagnachmittag vor 25 Schülern, welche zu diesem Auftritt in die Aula gekommen sind.

Nun ist Zurek irgendwie zufrieden und führt seine Frau aus:
"Zieh dich um, Mädchen, wir gehen im Bahnhof essen." (S. 271)

(Dem Mann kann nicht geholfen werden!)

Michael Seeger, 14. April 2020

 

 © 2002-2020 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 14.04.2020