zitierte (wen?) meine Kollegin Dr. Ursula Elsner im Titel ihres Vortrags >> an meiner ehemaligen Hochschule "Lenguas Vivas" in Buenos Aires im März 2009. Diese Frage ist für mich längst entschieden: Man ersetze das "oder" durch ein "und".
Was am neuesten Roman dieses so fleißigen Schriftstellers hervorsticht: Die Moralität kommt ohne jede Attitüde eines moralischen Zeigefingers daher. Das chronikalische Schreiben ist per se Moral. Noch stärker als früher bewegt Hein das Gewissen und die Emotionen des Lesers durch nichts als eine sachliche und nur sachliche Darstellung. Völlig unprätentiös erzählt - nein: berichtet - der Autor quasi objektiv-sachlich auch die schlimmsten Gräueltaten des 20.Jahrhunderts: Wie die Protagonisten Rainer Trutz, Schriftsteller, und seine Lebensgefährtin Gudrun vom christlich-sozialistischen Tillich-Kreis vor dem Terror der Nazis nach Moskau fliehen müssen (1. Buch), dort im Zuge der Stalinschen Säuberungen noch viel schlimmeren Staatsterror erleiden und dabei ums Leben kommen (2. Buch) und wie sich, zwar nicht als Gefahr für Leib und Leben, aber für seine Freiheit und die Wahrheit, für Sohn Maykl der "Fluch der bösen Tat" in der DDR fortsetzt (3. Buch). Sein im Exil von Prof. Gejm mit der Wissenschaft Mnemonik entwickeltes Gehirn vergisst nichts, was ihm zum Verhängnis wird: Als Archivar entdeckt er die Nazi-Vergangenheit eines Mitglieds des Zentralkommitees der SED, was zu einer Strafversetzung nach Weimar und schließlich nach der Provinzstadt Wittenberge führt. Nach über 40 Jahren trifft er dort seinen Jugendfreund, Gejms Sohn Rem, wieder. Man möchte fast an ein wodkaseliges Happy End glauben, da muss der von all der totalitären Grausamkeit geschüttelte Leser dann doch noch erfahren, dass und wie Rem durch einen Axtschlag in den Schädel ermordet wird. Trotzki lässt grüßen.
Hein hat in diesem Roman reale Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinem Romanpersonal und dessen Lebensgeschichten zu einer überzeugenden Chronik des Jahrhundert verflochten. Viele der in der Fiktion agierenden Figuren sind historisch verbürgte Gestalten. Was für eine Archiv-Forscherarbeit muss der Autor da auf sich genommen haben! Selbst schreibt er im Prolog: "Maykl Trutz - Diesem Mann verdanke ich diesen Roman, für den ich die Archive dreier Länder aufsuchte ..." (S. 21). Es scheint fast so, als habe er sich in Maykl Trutz, dem Archivar, auch selbst portraitiert.
Ein wenig spektakulärer Textauszug soll zeigen, was ich mit dem sachlich-unprätentiösen Stil meine. Es handelt sich um eine Situation, die ich aus eigener Anschauung kenne: die Provinzialität auf dem Bahnsteig in Wittenberge. Sie zeigt mehr als Provinz. Man spürt dabei, welche Öde und Einsamkeit, welche soziale Veränderung die Deutsche Einheit für eine kleine Ex-DDR-Stadt produziert hat.