Michael Seeger Rezensionen Forum

Stern 111

Lutz Seiler: Kruso

Suhrkamp, Berlin 2014, 483 S., 22,95 €

gelesen in 3 Tagen im Oktober 2014

 

 Bildreiche lyrische Sprache

 

Der bislang hauptsächlich als Lyriker bekannte Autor entfaltet in seiner ungewöhnlich bildreichen lyrischen Sprache mit nie gelesenen Syntagmen eine eigene Sprachwelt: „Die Insel nahm Kurs durch den Nebel seiner ungestillten, grenzenlosen Begierde.“ Wem verdankt Seiler dies außer dem eigenen Genius? „Aus Edgars „Beständen“ summen Zeilen von Jürgen Becker, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn und Peter Huchel in den Text.“

Neben der neu geschaffenen Sprachwelt erscheint Hiddensee, das ich kurz vor der Lektüre im spätsommerlichen Nebel erlebt hatte, als utopischer Fluchtpunkt vieler intellektueller DDR-Schiffbrüchigen, die Krusowitsch um sich sammelt. Wenngleich sehr viel autobiografisch erlebt ist, mag man kaum glauben, welche Autonomie die Kruso-Gruppe im „Klausner“ entfaltet und lebt. Dabei wird dem ekligen „Abwasch“ des Helden dann doch zu viel – auch redundante – Aufmerksamkeit geschenkt. Die Leichtigkeit des Beginns gleitet mehr und mehr in die persönliche Tragik der Figuren in einem untergehenden System. Die Recherche in Dänemark, die der Epilog dokumentiert, macht ob des dreifach „Verschwunden“ sehr, sehr betroffen. Da hilft nicht einmal mehr Trakls Lyrik (an dessen 100. Todestag).

Der Deutsche Buchpreis für Seiler ist verdient, wenngleich er besser schon vor Jahren den Huchel-Preis bekommen hätte, den der Huchel-Hausverwalter aus Brandenburg jetzt wohl nur noch schwerlich bekommen kann!

Michael Seeger, 03. November 2014

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Michael Seeger

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Kruso

Lutz Seiler: Stern 111

Suhrkamp, Berlin 2020, 528 S., 24,00 €

ISBN 978-3-518-42925-9

gelesen im Oktober 2020

 

Seiler

Wer bin ich - ohne Buch?

vom Scheitern eines Möchtegern-Dichters an sich selbst und der Nachwendezeit

Carl Bischoff wird per Telegramm von seinen Eltern dringend nach Gera beordert. Er soll dort ihr Erbe verwalten, weil die Eltern 2 Tage nach der Maueröffnung im Jahre 1989 in den Westen reisen/flüchten - ohne Erklärung für "Carl-das-Kind". Der - ein ehemaliger Maurer - hat sein Studium in Halle abgebrochen. Durch die Abreise seiner Eltern verunsichert, "flieht" Carl - auch vor sich selbst - nach Berlin und nächtigt dort zunächst im elterlichen Shiguli (Lada). Es ist - wie in einem Entwicklungsroman alten Musters - der Versuch, ein Dichter und damit er selbst zu werden. Halb erfroren und fiebrig rettet ihn die erotische Ragna: "Am Schwanz aus dem Sumpf gezogen". Sie führt ihn ein in das "Rudel" um den "Hirten Hoffi" nebst Ziege Dodo. Der (sich selbst) Suchende findet "Heimat" und wird Teil einer anarchischen Gemeinschaft um die besetzten ("bewohnten") Häuser rund um die Oranienburger Straße. Dort wirkt er als "Shigulimann", Kellner, Ziegenmelker, Maurer, Türaufbrecher und arbeitet - mit wenig Erfolg - an Gedichten. Es blüht die Illegalität, auch in der Kneipe "Assel", wo auch eine liebenswert-brutale russische Soldateska verkehrt, später auch die Nutten der Oranienburger.

Hier gibt es für den Leser ein Wiedersehn mit Edgar und Kruso aus dem gleichnamigen Roman. Die beiden abenteuern durch ihr archaisches Leben jetzt nicht mehr auf Hiddensee, sondern erfinden es neu im chaotischen Ostberlin der ersten Nachwende-Monate. Wie in "Kruso" nimmt neben dem dichteren Plot vor allem Seilers Sprache gefangen, die uns lyrisch in die versifften Wohnungen, Straßen, Kneipen, das "Bombenwäldchen" und in das Innere des Antihelden Carl zieht. Alles personal erzählt:

"An jedem Morgen nach dem Heizen saß Karl an seinr Werkbank und versuchte, zu schreiben. An den Nachmittagen stieg er hinab in die Katakomben der Assel. Er dachte nicht allzuviel darüber nach. Er folgte dem Vorschlag, den das Leben machte, und es fühlte sich nicht falsch an." (S. 122)

"Dichters Ort" ist authentisch bis ins kleinste Detail beschrieben - zum Nachwandern. Die Zeitläufte waren/sind aber so dynamisch, dass aus den revolutionären Wendehoffnungen so wenig geblieben ist wie aus den Häusern: "Die Lage - sonst ist nichts geblieben." (S. 522).

Diese Authentizität schenkt der Autor auch dem Leben der Eltern an diversen Orten der westlichen Welt von Gelnhausen bis Malibu. Die Einbettung des Elternlebens in den "Entwicklungsroman" vom Leben Carls ist allerdings erzählerisch fragwürdig gestaltet. Mutter Inge schreibt Briefe, welche der Erzähler wörtlich kurz zitiert, um dann in aller Breite das Leben der Eltern zu schildern ohne die personale Focussierung auf den Helden Carl zu verlasssen - ein Perspektivwechsel, der sowenig gelingt wie der Epilog, der als "Carls Bericht" (an wen bitteschön?) in Ichform daherkommt und die Jahre 1992 bis 2009 zusammenfasst. Auch der gelegentliche Wechsel ins Präsens wirkt sinnfrei. Ein Meister aber ist Seiler in der lyrisch anmutenden Sprache, in der Auslassung, der Lakonie. Der Leser weiß die Leerstellen zu füllen.

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Die Zweifel am Gelingen des Lebensentwurfs "ein Dichter sein!" begleiten Carl von Anfang an:

"... sofort setzte seine Sorge ein: Vielleicht war er gar kein Dichter, nur ein Prosamann, ein Briefeschreiber - Briefelügner, genauer gesagt" (S. 147)

Der Leser ahnt früh sein Scheitern im Alltag, in der Liebe (zu Effi), in der Suche nach Gemeinschaft, in der Sohn-Eltern-Beziehung und vor allem in der Dichter-Existenz:

"Das Gefühl der Niederlage überspült sein Herz. (S. 442). Er war jetzt Mitte zwanzig, und er war nichts." (S. 487) Und dann als Ich-Bericht im Epilog: "Ich hatte Angst vor dem Ernstfall. Was anderes sollte es bedeuten, dass ich seit Jahren über die Anzahl von zwanzig Gedichten nicht hinauskam?" (S. 519)

Lustig ist der große Roman nicht. Die Lethargie, die Selbstzweifel des Protagonisten schaffen auch beim Leser einen deprimierenden Sog. Carl hat viele literarische Brüder: Kästners Fabian, Döblins Bieberkopf, Kafkas Karl Roßmann ("Amerika") und Josef K., Horvaths Kasimir und leider auch Büchners Woyzeck.

Das eigentliche Romanende - vor dem Epilog - stimmt leicht versöhnlich:

"Er blieb stehn und sank langsam ein. Eine Welle und die nächste - es war angenehm. Er stand jetzt gut. Den Horizont vor Augen und einen feinen Sandschlamm zwischen den Zehen. Er summte leise in die Brandung, 'Love, love me do', er schwankte ganz leicht im Takt der Gezeiten. War es nicht wunderbar, allein zu sein?" (S. 497)

Zum Glück verschwindet er nicht wie Thomas Manns Tadzio in der Unendlichkeit des Meeres! Denn wir wollen ihm gerne in Seilers nächstem Roman wieder begegnen!

Michael Seeger, 03. November 2020 top

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