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- Tod eines Krebsgängers
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- zu zwei literarischen Neuerscheinungen
ehemals großer deutscher Scherrrriftstellerrrr
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- An Martin Walsers neuestem Roman „Tod eines Kritikers“ war das
interessanteste die Debatte vor der Veröffentlichung. Da tobten
Injurien und Apologien um ein des Antisemitismus verdächtigtes Buch.
Die besten Beiträge dazu
brachte die SZ im Frühjahr 2002. Für den Suhrkamp Verlag hatte sich
die Querelle gelohnt. Sofort nach dem Erscheinungsdatum (26. Juni
2002) war der Roman ausverkauft.
- In solchen Fällen kann die
Lektüre eigentlich nichts als Enttäuschung bringen. Der Roman ist
nicht antisemitisch, er ist nicht anstößig, er ist einfach nur
schlecht. Der Leser quält sich durch ein langweiliges und langweilig
erzähltes Geschehen. Antisemitismus? Ist es antisemitisch, wenn auf
über 200 Seiten zweimal erwähnt wird, dass der Kritiker Ehrl-König
jüdischer Herkunft ist, weil dieser (Reich-Ranicki nachgestaltete)
Kritiker ermordet wird. Die philosemitischen Verurteiler des Buches
hatten wohl nur die ersten Seiten gelesen, daraus gar den Schluss
gezogen, das Buch fordere geradezu zum Mord an Juden auf. Dass die jüdische
Herkunft Ehrl-Königs für die Aversion des angeblichen Mörders überhaupt
keine Rolle spielt, haben die Walser-Gegner wohl kaum wahrgenommen.
Entgangen ist ihnen auch, dass diese literarische Figur gar nicht
ermordet worden ist, sondern diesen Mord nur fingiert, um sich
interessant zu machen.
- Dass die Kritiker den Roman
offensichtlich nicht zu Ende gelesen haben, kann ich ihnen indessen
nicht übel nehmen. Wie gesagt, das Buch ist schlecht, langweilig,
uninterrrressant, trifft nie den Nerv des Lesers, ist eine
literarische Abrechnung Walsers mir RR. Für den Leser taugt das Sujet
nicht! Wirklich an keiner Stelle blitzt Walsers Erzähltalent auf, wie
wir es etwa aus „Seelenarbeit“ kennen und bewundern.
- Schlechter aber als das Buch waren dessen
Kritiker. Political Correctness wird derzeit in Deutschland wohl so
verstanden, dass weiterhin Juden immer nur als Opfer (des Holocaust)
vorkommen dürfen. Deswegen durfte auch Möllemann die Regierung
Scharon nicht kritisieren. Bei Walser war die Journaille wohl deswegen
besonders hellhörig, weil der ja in seiner berüchtigten Frankfurter
Friedenspreisrede sich gegen die Instrumentalisierung des
Holocaust-Syndroms ausgesprochen hatte. Wie sich jetzt zeigt: zu
Recht!
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- Ein anders Tabuthema greift der
Literaturnobelpreisträger Günter
Grass auf: Flucht und Vertreibung und die daraus entstandene
menschliche Not als literarisches Sujet eines „Linken“, der das
Thema besetzen und damit den Rechten enteignen will. Auch dies kann
ich nicht anstößig finden.
- Novelle nennt der Großmeister
sein Buch deshalb, weil als mehrere Erzählstränge und erzählte
Zeiten verbindender „Falke“ das im Januar 1945 torpedierte Flüchtlingsschiff
(ehemaliges KDF-Schiff) Wilhelm
Gustloff fungiert. Kein lineares, spannendes Erzählen wie sonst
bei Grass, sondern ein quasi archäologisches Freilegen verschiedener
Geschichten. Mehr Geschichtsbuch als fiktive Epik kommt die Erzählung
„der Zeit eher schrägläufig
in die Quere ... nach Art der Krebse“ (S. 8). So erfährt der
Leser viel über die Geschichte zwischen 1895 und 2002; der fiktive
Gehalt der Novelle dagegen ist gering.
- Was sind nun die Erzählstränge?
- das belastete Datum 30. Januar (Machtergreifung,
Versenkung der Gustloff, Geburtstag des Ich-Erzählers)
- die Biografie des Schweizer NS Landesleiters Wilhelm
Gustloff
- die Vita seines jüdischen Mörders David Frankfurter
- die Geschichte des KDF-Schiffes
„Wilhelm Gustloff“ bis zu seiner Versenkung als Flüchtlingsgsschiff
- die Geschichte des als Journalist daher kommenden
Ich-Erzählers, der kurz nach der Versenkung des Schiffes geboren
wurde
- die Geschichte der Tulla Prokriefke, der Mutter des
Ich-Erzählers
- die Geschichte des russischen U-Boot-Kommandanten
Marinesko, der die Gustloff versenkte
- die Geschichte des Konrad Prokriefke, Sohn des Ich-Erzählers,
der eine Webseite „www.blutzeuge.de“ betreibt, gemäßigt
rechtsradikal (die NS-Linke als Vorbild) ist und seinen sich als Juden
David ausgebenden Chatt-Freundfeind Wolfgang Stremplin ermordet
- die Geschichte des kollektiven (Nicht)-Erinnerns im
Dritten Reich, in der SU, der DDR, der BRD, Israels
- die Geschichte des als allmächtig und allwissend den
Ich-Erzähler beauftragenden Über-Autors Grass, der hier geradezu
hymnisch „Er“ genannt wird und aus dessen „Hundejahren“,
„Blechtrommel“ und „Katz und Maus“ zitiert wird
- die Geschichte des Internets
Alles ist stets mit dem
Schiff verwoben, insofern eben Novelle, die in der „Gustloff“ ihr
Dingsymbol hat. Alles sehr realistisch-historisch-politisch. Alles
sehr belehrend. Einzig die Geschichte der Mutterfigur Tulla, die stark
an Oskar Matzerats Großmutter erinnert, ist von literarischen Fleisch
und Blut. Sie ist eine typisch Grasssche (Groß)Mutterfigur, lebt aus
kaschubisch-erdigem Selbstverständnis und ist als angepasste(s) Mädchen/Frau
Spiegel der deutschen Geschichte im Dritten Reich, der DDR und dem
vereinten Deutschland. Insofern ist die Erzählung auch ein wenig das
seit langem geforderte Wiedervereinigungsepos. Um Tulla herum findet
Grass seine bekannte und beliebte sinnlich-barocke Sprache. Hier liegt
ein echter literarischer Plot vor. Hier wird der Leser emotional
angesprochen. Über die durchaus kunstvoll-architektonische
Gesamtkomposition will keine rechte Freude aufkommen: „Man merkt die
Absicht, und man ist verstimmt.“ Dies gilt auch für manchen
Konventionalismus, der auf dem Buch lastet: Man ahnte es schon: es müssen
9 Kapitel sein, eine
doppelte Schwangerschaft symbolisierend: zum einen die Tullas, zum
anderen die der „Kopfgeburt“, der Entstehung des Buches.
- Was ist noch typisch Grass? Das „ewige
Tier“ – im Titel und im Fuchspelz Tullas. Die „ewige
Lehrerin“, des Ich-Erzählers „Ehemalige“, Gabi. Die lüsterne
Schilderung einer Geburt (vgl. Blechtrommel).
- Ist es nun ein Verdienst des
Autors, dass er ein bisheriges Tabu-Thema, Flucht
und Vertreibung, literarisiert hat? Gewiss! In dieser Hinsicht
steht er dem Friedenspreisredner Walser nahe. Aber mit welchen Winkelzügen
macht er das? Auch Grass ist schüchtern, huldigt der Political
Correctness und schiebt zu seinem Unterfangen diesen journalistischen
Ich-Erzähler, eine mittelmäßige Figur, vor. Störend finde ich, wie
Grass als epischer Übervater dennoch im Hintergrund steht, fast schon
wie ein Gott „ER“ genannt wird. Dass Grass stilistisch zu seinem
Sujet so auf Distanz geht, evoziert eine nervende Rede im Konjunktiv
der indirekten Rede. Statt hier diese Konstruktion weiter zu
beschreiben, möge der Leser im Originaltext sich ein Urteil bilden.
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- Das 4. Kapitel etwa beginnt so (S.
77f):
- Bei
einem der von ihm eingefädelten Treffen, die er Arbeitsgespräche
nennt, bekam ich zu hören: Eigentlich müsse der Handlungsstrang,
der mit der Stadt Danzig … verknüpft sei, seine Sache sein. Er
und kein anderer hätte deshalb von allem, was das Schiff angehe,
die Ursache der Namensgebung und welchen Zweck es nach Kriegsbeginn
erfüllt habe, berichten und also vom Ende auf Höhe der Stolpebank
kurz- oder langgefaßt erzählen müssen. Gleich nach Erscheinen des
Wälzers „Hundejahre“ sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden.
Er – wer sonst? hätte sie abtragen müssen. Schicht für Schicht.
…
- Leider
sagte er, sei ihm dergleichen nicht von der Hand gegangen. Sein Versäumnis,
bedauerlich, mehr noch: sein Versagen. Doch wolle er sich nicht
rausreden, nur zugeben, daß er gegen Ende der sechziger Jahre die
Vergangenheit sattgehabt, ihn die gefräßige, immerfort
jetztjetztjetzt sagende Gegenwart gehindert habe, rechtzeitig auf
etwa zweihundert Blatt Papier …
Nun sei es zu spät für ihn. Ersatzweise habe er mich zwar
nicht erfunden, aber nach langer Sucherei auf den Listen der Überlebenden
wie eine Fundsache entdeckt: Als Person von eher dürftigem Profil,
sei ich dennoch prädestiniert: geboren, während das Schiff sank.
….
- Uneigentliches Erzählen möchte
ich das nennen, enttäuschend bei einem Autor, dessen sinnlich-direkte
Fabulierkunst wir ja kennen. In diesem uneigentlichen Erzählen ist
das jüngste Buch des Literaturnobelpreisträgers dem jüngsten des
Frankfurter Friedenspreisredners verwandt.
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- Für uns Leser sind es zwei Enttäuschungen.
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- Forum
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- Hier werden Reaktionen von Lesern veröffentlicht:
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- 1) 07. November 2002
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- Sehr
geehrter Herr Seeger,
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- mit
Interesse habe ich Ihre Rezension zu Günter Grass' neuestem Werk
"Im Krebsgang" im Internet gelesen. Ihrer literarischen
Wertung der Novelle kann ich freilich nicht zustimmen. Das
Konstruktionsprinzip der verschiedenen Erzählebenen, die sich im
Verlauf der Handlung zunehmend als komplementär zueinander erweisen
und sich daher am Ende auch immer stärker durchdringen, finde ich sehr gelungen. Dadurch dass
Grass sich dem Gustloff-Thema aus mehreren Perspektiven "im
Krebsgang" nähert, ist seine Novelle eben gerade nicht
dogmatisch oder oberlehrerhaft, weshalb ich Ihren Vorwurf, alles sei
"sehr belehrend", nicht teilen kann. Dass die historischen
Fakten sehr genau und gut recherchiert sind, empfinde ich nicht als störend bei der Lektüre. Grass geht zu seinem Sujet ja
keineswegs auf Distanz; das Spiel zwischen dem Ich-Erzähler und dem
"Alten" als Kontrollinstanz im Hintergrund würde ich eher
als ein stilistisches Mittel sehen, mit dem Grass das "Versäumnis",
nicht früher über die Geschehnisse berichtet und das Thema den
(nicht grundlos häufig des Revanchismus bezichtigten)
Vertriebenenverbänden überlassen zu haben, sprachlich geschickt
reflektiert. Schon der Beginn der Novelle ist wie in Stein gemeißelt:
"Warum erst jetzt, fragte jemand, der nicht ich bin". Von
"uneigentlichem Erzählen" kann hier keine Rede sein! Da die
historische Ebene in die private familiäre Gegenwart Paul Pokriefkes
und seines Sohnes Konny hineinwirkt, kann man auch nicht über einen
Mangel an fiktivem Geschehen klagen. Im Gegenteil ist meiner persönlichen
Ansicht nach "Im Krebsgang" auch aus dem Grund so
fantastisch gelungen, dass sehr spannend und zielstrebig im Hinblick
auf die beiden dramatischen Höhepunkte - den Untergang der
"Gustloff" und den Mord an Wolfgang Stremplin - hin erzählt
wird, was den neuen Grass zu einer gut geeigneten Schullektüre macht
- nicht zuletzt auch, weil die Generation von Konrad Pokriefke und
Wolfgang Stremplin ein großes Identifikationspotential für die SchülerInnen
darstellt, das die Thematisierung der Gegenwartsrelevanz von
Geschichte und des Problems des Rechtsradikalismus ermöglicht. Daher
sollte man "Im Krebsgang" nicht als "Enttäuschung"
abtun, sondern gerade auch für den Deutschunterricht fruchtbar
machen. Zu einer differenzierteren Sichtweise kann das Buch mit seiner
Vielschichtigkeit (Frankfurter, Marinesko, Tulla Pokriefke...) allemal
beitragen. Und das sollte man bei diesem wichtigen Thema nicht
ignorieren, denn wir wissen ja: "Das hört nicht auf. Nie hört
das auf."
In der
Hoffnung, die eine oder andere Anregung zu Ihrem Internet-Auftritt geben
zu können, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
T.
Wiese, Universität Osnabrück
2) 21. Februar 2003
Ich
habe mit Interesse deine Kritik zu Walser gelesen - der ich bis ins letzte
Komma zustimme: Ich hatte sogar den Verdacht, dass Walser
"absichtlich" ein schlechtes Buch schreiben wollte. Kann man
seinen Erzählstil so verlieren? Zu Grass kann ich nichts sagen, ich habe
das Buch nach ein paar Seiten weggelegt - es war mir zu verquast!
Dr.
Felix Emminger, LBI Santiago de
Chile
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