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Christoph Hein: 

Das Napoleon-Spiel

suhrkamp Taschenbuch (3480), Frankfurt a.M. 2003, 190 S., 9,50 EUR

Erstveröffentlichung 1993 Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

ISBN 3-518-39980-2

gelesen Januar 2022

 

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Nicht wie bei Schiller, wo der Mensch nur da Mensch ist, wo er spielt, agiert hier der Ich-Erzähler. Wo und wenn er spielt, wird er mehr und mehr zum zynischen Unmenschen, der schließlich aus innerer Notwendigkeit zu einer "unerläßlichen Tötung" schreitet - mit der Queue aus dem Billard-Spiel - gestoßen an die Schläfe des sorgfältig ausgesuchten Opfers. In einer Art Epilog kündigt der Protagonist sein nächstes Spiel an, nämlich sein neu ausgewähltes Opfer zu ruinieren.

Gewiss folgt das Spielgeschehen seit den frühen Kindheitstagen des Protagonisten auf den Schößen der erotisch aufgeladene Frauen in der väterlichen Schoko-Fabrik in Stettin einer gewissen dramaturgischen Steigerung, der Roman vermag aber nicht zu überzeugen. Liegt das am Titel? Denn auch der verwandte Titel "Der Tangospieler" war ein Flop des sonst so geschätzten Autors. Im vorliegenden Buch ist das vor allem am Konstrukt geschuldet. Die Folie, vor der das immer mehr diabolisch werdende Spiel sich abspielt, ist der für den Spieler Napoleon unvermeidliche Zug nach Moskau. Uns so sucht der Protagonist aus Langeweile "sein Moskau". Ist das schon eigenartig genug ausgedacht, wird die erzählerische Anlage noch eigenartiger dadurch, dass das Romangeschehen in einem 180 Seiten langen Brief des Erählers aus der Untersuchungshaft an seinen Strafverteidiger, den "vereehrten Herrn Fiathes" sich entfalten muss.

Der Unterhaltungwert des Romans ist gering, die Suada des Briefschreibers immer wieder auch redundant, manche Episode wie die mit der Geliebten Katja überflüssig, weil ohne Funktion, die Sentenzen und Aphorismen des Erzählers bringen dem Leser wenig Gewinn. Als Kenner Christoph Heins muss ich davor warnen, die zynische Weltsicht für die Stimme des Autors zu halten. Warum aber schreibt der aus der DDR stammende Hein von "Zonengrenze" und "russischer Zone"? Warum gibt er dem Tabernakel und der Queue das grammatikalische Neutrum als Genus? Warum überstrapaziert er die Mataphern aus dem Feld des Billard-Spiels? Das "Loch" beim Pool-Billard nennt er "Tasche".

Bei einem Roman über Spiel-Obsession hätte ich schon intertextuelle Allusionen zu den bekannten Marksteinen erwartet: zu Dostojewkis "Spieler", zur "Schachnovelle", zu Bölls "Billard um halbzehn", zu Huizingas "Homo ludens". Schiller wird im letzten Satz, wie erwähnt, unter "unsere Vorväter" (S. 190) immerhin subsummiert.

Was ich schon ahnte:

"Vielleicht sind Frauen zu ehrgeizig, um spielen zu können. Oder zu mitleidend, um beim Spiel kühl zu bleiben." (S. 105)

"Spiele sind nicht demokratisch, und wirkliche Spieler sind Aristokraten, die, auch wenn sie verlieren, keinen Moment an der einzig gültigen Legitimität zweifeln, der des Spiels. (S. 126)

Napoleon und der Ich-Erzähler betreiben ihre todbringenden Spiele, um der Langeweile Herr zu werden. Ich aber habe mich bei der Lektüre zu Tode gelangweilt.

Michael Seeger, 29. Januar 2022top

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