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Stefan Zweig

Schachnovelle

Bergmann-Fischer AB, Stockholm 1943
S. Fischer Frankfurt am Main 1972 (FTB 1522)

ISBN: 3-596-21522-6

95 S. (heute) 10,00 EUR

gelesen (1966, 1982) und jetzt Oktober 2021

Zweig

 

Wunderbares Remake als Film

Es ist wieder wie bei Seghers' "Transit", Kästners "Fabian", Brechts "Dreigroschenroman", Döblins "Berlin Alexanderplatz" oder Lenz' "Deutschstunde": eine gelungene Literaturverfilmung lässt mich nach dem Kinoerlebnis ins Bücherregal greifen und führt zur Re-Lektüre des Werks. Es ist 55 und 39 Jahre her, seit ich die Nobelle davor gelesen hatte.

Nicht nur wegen des großartigen Films fällt mein Urteil heute kritischer aus als damals: Wieso muss Zweig ganze sechs Mal expressis verbis auf den Novellencharakter im Goetheschen Sinne hinweisen? "Aber da geschah plötzlich ... das Unerwartete." (S. 86). Wieso ist die Erzählstruktur so verschachtelt, dass die Schiffsreise als Rahmen erscheint, dort ein "Freund" den Ich-Erzähler über den an Borrd befindlichen Schachweltmeister Czentovic aufklärt und die tragische Gestapo-Folter dann als 40-seitige Binnengeschichte platziert wird? An Bord erzählt das Opfer Dr. Bartok seine furchtbaren Erlebnisse - quasi als unterhaltsames Deck-Geplauder - dem Ich-Erzähler: "Wenn Sie eine halbe Stunde Geduld haben ..." Interessanterweise kommt es bei dieser Binnenerzählung zur Zeitdeckung von Erzählter Zeit und Erzählzeit.
Was aber völlig unglaubwürdig daherkommt, ist die emotionale Teilnahmslosikeit des einst von der Gestapo Gequälten.

Während Stölzl in seinem Fiilm die Figur des Dr. Bartok an den Rand der Existenz und darüber hinaus schier wahnsinnig werden lässt und damit eine beeindruckende Hymne auf die Freiheit des Menschen singt, ist bei Zweig die "künstliche Schizophrenie" (S. 71) vor allem dadurch bedingt, dass der Spieler sein Ich in "Schwarz" und "Weiß" aufspalten muss, um in Gefangenschaft rein gedanklich gegen sich selbst - "blind" - spielen zu können, was schließlich zur krankhaften "Schachvergiftung" (S. 74) führt.

Zweig hat die Novelle kurz vor seinem Freitod im brasilianischen Petropolis verfasst. Angesichts dieser biographischen Situation kommt der Text doch viel zu harmlos daher. Stölzl dagegen zeigt einen durch die äußere barbarische Bedrohung zerstörten Menschen und berührt uns heftig - über die zwei Kinostunden hinaus.

Also: Ab ins Kino!

Michael Seeger, 25. Oktober 2021

© 2002-2022 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 02.12.2022