Michael Seeger Rezensionen Forum

Zeh

 

Juli Zeh:

UNTERLEUTEN

Luchterhand München 2016 (btb 71573) 643 S., 12,00 EUR

ISBN 978-3-442-71573-2

gelesen April 2019

 

Cover

>> Zeh: "NEUJAHR"

>> Leere Herzen

Zu viele Seiten!

Scharfe Figurenzeichnung in prägnanter Prosa und Spiegel unserer Zeit

Der Anfangs mitreißende Roman verliert sich aber zunehmend in einem nicht überzeugenden Plot.

 

"Zu viele Noten!" kommentiert Joseph II lakonisch Mozarts Komposition - im Film "Amadeus". "Zu viele Seiten!" möchte man analog der begabten Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh zurufen. Denn das Feuerwerk, welches sie in den ersten IV von VI Teilen entfacht, brennt nicht bis zum Schluss, obwohl der "Action-Faktor" stetig zunimmt. In kurzen Kapiteln - wunderbare Minutenlektüre - führt uns Zeh in die Dystopia eines fiktiven brandenburgischen Dorfes.

"Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art von vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernrab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei." (S. 29)

In kurzen prägnanten Miniaturen entwirft die Autorin ein Panorama, welches vor allem durch seine Charakterstudien beeindruckt:

Die Übersicht über die (30 u.a.) Bewohner des Dorfes erleichtert ein Register (S. 637ff). Ein Dorfplan im Buchdeckel beflügelt die auf's Naturalistische gerichtete Phantasie. Die opulente Personenkonstellation will zusammengehalten werden durch eine Fabel: den Plot des Romans. Ähnlich wie das Menasse für Brüssel mit den Schweinen intendiert - und dabei scheitert - verhält es sich in Zehs zu sehr ausuferndem Roman: Der Dorfstreit um eine zu errichtende Windkraftanlage soll das komplexe Gefüge der kuriosen Gestalten erzähltechnisch auf der Handlungsebene zusammen halten. Je mehr sich der Roman zu einer Art Tatort-Krimi entwickelt, je mehr Action also das Lesen beleben soll, desto langweiliger wird die Lektüre. Da helfen dann auch blöde "Kindesentführungen", Bluttaten und Leichen - auch eine im "Keller" der DDR-Vergangenheit - nicht mehr. Völlig abstrus empfinde ich Gombrowskis, des Ex-LPG-Leiters, Suizid im Wasserversorgungsbrunnen: Sein Blut und sein Leichensaft rinnt in das Dorfwasser, so dass die Bewohner ihren diktatorischen "Chef" trinken müssen. Ähnlich wie in manchem TV-Tatort werden zahlreich gelegte Fährten und Fäden zum Schluss nicht aufgelöst. Erzähltechnisch völlig misslungen ist die retrospektive Aufdeckung der in der DDR-Zeit spielenden Gewalttat (Kap. 48).

Um es kurz zu machen: Zeh hätte sich kürzer fassen sollen, 400 Seiten hätten genügt, die vielen wenig sinnstiftenden Aperçus wären verzichtbar.

In den ersten beiden Dritteln ist das Buch aber nicht nur spannend, sondern ausgesprochen amüsant. Der knappe, von sarkastischer Prägnanz dominierte Stil ist treffsicher, öffnet uns für unsere Gegenwart die Tür für stimmige Einsichten. Die dichter werdenden Kommentare kommen teils als innere Stimmen/Monologe der handelnden Figuren daher, teils als Wertungen der auktorialen Erzählerin:

"Was ihn so gebannt zuhören ließ, war die Art, wie Frederik und Linda miteinander sprachen. Die beiden gehörten zu einer fremden Spezies. Nichts an ihnen war gedämpft. Nichts an ihnen war unsicher, zurückhaltend, zweiflerisch oder bescheiden. Diese jungen Menschen, in Meilers Augen halbe Kinder, agierten als Repräsentanten eines neuen Jahrhunderts. Sie arbeiteten nicht mehr für Vorgesetzte. Sie kannten keine überheizten Büros, keine grauhaarigen Sekretärinnen und keine Telefone, die über Kabel mit der Wand verbunden waren. Sie kannten keine Abteilungen und deren Abteilungsleiter, keine kurzen und langen Dienstwege und auch nicht den Geruch von frisch gesaugten Teppichböden, der die Arme schwer, den Rücken krumm und die Schritte langsam machte. Sie waren selbstständig, selbstsicher, selbstsüchtig, wandelnde Selfies, zwei dauerbewegte Selbstporträts. Wenn sich Meiler die neue Generation vorstellte, sah er eine Armee von jungen Leuten mit ausgestrecktem rechtem Arm, nicht zum Führergruß, sondern um das eigene Gesicht mit dem Smartphone aufzunehmen." (S. 551)

Im Epilog schließlich taucht die Erzählerin als Lucy Finkbeiner selbst auf, eine Journalistin, die den ganzen Fall recherchiert (hat). Nicht nur dadurch erhöht sich die (fiktive) Authentizität des Geschehens. An zahlreichen Stellen referenziert die Erzählerin URLs betreffender Akteure, welche es tatsächlich gibt: Von der Gaststätte "Märkischer Landmann" sehen wir auf seiner Homepage sogar die Speisekarte. Der Betreiber der Windkraftanlagen heißt glaubwürdig "Vento Direct". Navigiert man auf der Website des Beraters Manfred Gortz findet man in der Leseprobe viele Nachweise für Passagen, welche die Figur Linda Franzen so beeindrucken. Im Impressum dieser Seiten taucht dann Zehs Verlagsgruppe Random House auf. Alles raffiniert gefakt! (>> mehr). Man merkt es aber zunächst nicht, denn dazwischen schafft es der realexistierende Berliner Politik-Professor Herfried Münkler selbst ins Personenregister. Recherchiert man nach den zu schützenden Vögeln mit dem sinnstiftenden Namen "Kampfläufer", landet man auf der Seite des Vogelschutzbundes Unterleuten e. V. mit einem veritablen Foto des Vorsitzenden Gerhard Fließ, eines der Protagonisten der Romanhandlung. "Bei uns piepst's" heißt es dort. Tatsächlich, Zeh zeigt uns den Vogel! Diese ganze virtuell-reale Welt hat sie in postmoderner Intertextualität selbst erschaffen. Man ist kurz davor, eine geführte Tour bei Gerhard Fließ zu buchen oder im Webshop einen Pulli zu kaufen, ehe man sich verneigt vor der schalkhaften Juli Zeh, der frechen Schöpferin dieses fiktiv-authentischen Universums!

Kampfläufer

Der Kampfläufer. "Bei uns piepst's!" - Wer hat hier einen Vogel?

Michael Seeger, 21. Mai 2019

 © 2002-2024 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 29.01.2020