Michael Seeger Rezensionen Forum

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Günter Grass, Ein weites Feld

1993, Steidl Göttingen 1995, 781 S.

ISBN 3-88243-366-3

gelesen Oktober 1995

 

Besser als sein Ruf

Ein (allzu) weites Feld

Günter Grass´ großer Roman zur Deutschen Vereinigung

 

Wo und wann hat es das je gegeben, daß ein Autor für sein neuestes Werk einer konzertierten Aktion derart ablehnender Kritik begegnet, die ihren Gipfel in einer unerhörten Form fand: Literaturpapst Reich-Ranicki schrieb als Titel im SPIEGEL 34/1995 einen „Offenen Brief“ an den Autor: „Mein lieber Günter Grass!“ Die Kritik sammelt sich immer wieder in dem Vorwurf, daß G. Grass ein fragwürdiges Demokratie-Verständnis habe, nur weil er sich weigert, die Weltgeschicht´ als Weltgericht (Schiller) zu sanktionieren! Stattdessen stellt  Grass der realexistierenden Vereinigung eine demokratische Utopie Deutscher Einheit gegenüber, die ihre Anleihen historisch in der revolutionären 48er-Bewegung und literarisch im Werk des dort beteiligten Theodor Fontane nimmt. Ja muß man denn die Deutsche Einheit unbedingt wahrnehmen wie die „Regierende Masse in Bonn“, wie der Kanzler in Grass´ Roman heißt??

        Woher kommt die Häme der Kritiker-Mafia? Einer Zunft, die 1.000seitige L´art-pour-l´art-Ergüsse etwa eines Peter Handke stets ausgesprochen wohlwollend hätschelt? Was verbindet die Literaturkritik mit der Politik, mit jener unwissend-kämpferischen Ablehnung, die sich in Ludwig Erhards „Pinscher“ Ausdruck verlieh? Ich denke, es ist der Komplex eines „Scribifax“ (Fontane), der sich einem ganz Großen gegenübersieht. Da hatte R.-R. Sendung für Sendung im Literarischen Quartett immer wieder herausfordernd gefragt: „Wann kommt der Roman der Deutschen Einheit?“ Er hatte ihn von einem ostdeutschen Autor erwartet. Jetzt, da Grass den Großen Einheitsroman vorgelegt hat, ist es auch wieder nicht recht, weil zu politisch.

        Grass hat mehrere Bücher in einem geschrieben: Es ist die Geschichte der Deutschen Einheit von 1989 bis 1991, erlebt von Fonty, einem DDR-Kulturbundmitarbeiter, als dessen Tagundnachtschatten sich der ubiquitäre Stasi-Typ Hoftaller gibt. Auf dieser Ebene ist es Familiengeschichte, politische Geschichte (Treuhandkapitel), Kultur- und Architekturgeschichte. Das Buch ist aber auch Literaturgeschichte: eine Hommage an den Dichter Fontane, in dessen Werk sich Grass intensivst hineingearbeitet hat. Alle Fontane-Figuren erfahren in der Fonty-Welt eine gegenwärtige Adaptation. Daneben hat sich Grass mit großer Empathie die Mentalität, die Perzeption der Menschen in der DDR angeeignet, so daß manche Figuren (z.B. Fontys Tochter) geradezu authentisch die DDR-Sprache sprechen. Authentizität scheint mir überhaupt die größte Leistung des Buches zu sein. Für mich waren viele Kapitel der literarisch verdichtete Nachvollzug von eigenen Erlebnissen, die ich während mehrerer Berlin- und Rügenbesuche in den Jahren 1989 bis 1992 hatte.

        Wen wünscht sich der Autor als Leser? Er hat zugegeben, daß die Lektüre seines Buches wahre Arbeit ist, bei der der Leser manches zu lernen hat. Es scheint mir geradezu für Germanisten und Historiker geschrieben und ist insofern für Lehrer dieser Fächer bestens geeignet. Allerdings nicht für den Unterricht, setzt es doch zuviel Bildung voraus. Früher hatte Reich-Ranicki stets gefordert, ein Roman müsse 500 Seiten haben. Dieses Kriterium hat Grass (über)erfüllt. Und so stellt sich - wenn der Autor zwischen den Knüller-Kapiteln (Marthas Hochzeit z.B.) in Fontanescher Manier nichts als plaudert - zum Teil auch Langeweile ein, so daß man in Erinnerung an Kaiser Josephs Kritik Mozart gegenüber („zuviele Noten!“) dem Autor bisweilen zurufen möchte: „zuviele Seiten!“ Ein allzu weites Feld!

Am 3. Dezember 1995 las Grass im Freiburger Theater vor 1000 begeisterten Zuhörern aus seinem Roman. Am 2. Dezember besuchte er in Schallstadt eine Ausstellung mit seinen Grafiken. Diese Ausstellung ist noch bis 17. Dez. 1995 mittwochs 15-18, samstags 13-17, sonntags 11-15 Uhr  geöffnet. Wo? Kunstverein Schallstadt, Am Käppele 2

Michael Seeger, Oktober 1995

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