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Robert Menasse

Die Hauptstadt

Suhrkamp. Ffm 2017

ISBN: 978-3-518-42751-3

459 S. 24,00 EUR

gelesen Mai 2018

Menasse_portrait

Schwein gehabt - Dass wir diesen flammenden Europäer haben!

Humorvolle und tiefgründige Kritik am europäischen Bürokratismus

 

Der bekennende Raucher Robert Menasse hatte die Lacher auf seiner Seite, als er nach Lesung und Diskussion im Freiburger Paulussaal (27.04.2018) selbige abrupt beendete, weil er jetzt eine rauchen müsse. Wer diesen gebildeten, engagierten, von europäischem Feuer brennenden Autor in einer Lesung erlebt, welche mehr einer dramatischen Inszenierung (Stimmenmodulation!) gleicht, greift - geradezu getrieben - zum Roman ... und verschlingt ihn.

Die hohen Erwartungen des Live-Erlebnisses werden lesend nicht ganz eingelöst. Man hat beim Vortrag einiges über die Architektur des Romans erfahren, zu viel vielleicht: "Man merkt die Absicht und man ist verstimmt". Man hat nicht nur zu viel erfahren, es ist auch zu viel konstruiert: Der Roman ist an Motiven, Metaphern, Allusionen überladen. Er ist Kritik an der europäischen Bürokratie, ein (nicht aufgelöster) Kriminalroman, Polit-Journalismus, Terror-Antizipation, Liebesgeschichte, Skurillitätenkabinett, Geschichtsbuch, Manifest, Holocaust-Rezeption u.v.a.m. Weniger wäre da mehr gewesen. Das "Schwein" als in der Hauptstadt irrlichterndes Realum wird zur zentralen Metapher und zum roten Faden, welcher die zahlreichen Erzählstränge des Romans zusammen halten soll. Da wird - wie an vielen Stellen - mit der Sprache gespielt, werden alle Valenzen des Wortfeldes "Schwein" abgearbeitet: vom Glücksschwein bis zur Drecksau.

Gleichwohl verlässt man die Lektüre bereichert. Man weiß nicht nur, dass die Chinesen dringend Hunderte Millionen von Schweinsohren brauchen, dass Merkel mit keinen Repräsentanten ausländischer Mächte so viele Treffen absolviert wie mit chinesischen oder dass die wunderbare supranationale Idee leider täglich und quasi systemisch an den Nationalismen scheitert, welche doch die EU eigentlich überwinden will.

Und man amüsiert sich natürlich auch über die sarkastischen Darstellungen hauptstädtischer Kuriositäten. Einige Leseproben mögen Eindrücke von der "Hauptstadt" vermitteln.

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Die jungen Karrieristen und ihre sinnlosen Projekte:

"So konnte man über sie, »die Salamander«, verächtlich oder ironisch reden, auch wenn sie in der Kantine am Nebentisch saßen. Das ist die neue Generation bei uns, hatte Bohumil erklärt, keine Europäer, sondern einfach Karrieristen in den europä­ischen Institutionen, sie sind wie Salamander, man kann sie ins Feuer werfen, aber sie verbrennen nicht, ihr Hauptmerkmal ist ihre Unzerstörbarkeit.
Es waren junge Männer in korrekten engen Anzügen, mit großen Krawattenknoten und pomadisiertem Haar, schon optisch der schärfste Gegensatz zu den Mitarbeitern in der Kultur, sie waren glatt und wendig und auf eine Weise förmlich höflich, die Kassandra »niederschmetternd« nannte, fünf Minuten Smalltalk mit den Salamandern, und ich bin depressiv!
Was ist eure Aufgabe?, hatte Bohumil einen Salamander gefragt, als die Task Force Ukraine hier über ihren Köpfen einquartiert wurde. Er erfuhr, dass sie Hilfsprogramme für die Ukraine entwickeln sollten, um die Demokratiebewegung nach der Maidan-Revolution zu unterstützen. Die Herausforderung bestand darin, Geld zu verteilen, das sie nicht hatten. Es wurde ihnen kein neues, eigenes Budget zur Verfügung gestellt. Sie machten daher klassisches Repackaging - wenn man Neues nicht hat, wird Altes neu verpackt. Sie verpackten also alte, längst bestehende Hilfsprogramme mit neuen Titeln und neuen Bedingungen in neuen Kombinationen zu neuen Hilfspaketen, wodurch mit alten Budgets neue Verteilungskämpfe entstanden, die zu neuen Statistiken führten, in denen neue Prozentangaben und graphische Kurven neue Dynamik zeigten. Diese Aufgabe war die ideale Feuertaufe für diese jungen Karrieristen: Es gab am Ende nichts zu gewinnen als das eigene Überleben in den gegebenen Bedingungen beziehungsweise das Fortbestehen von alten Bedingungen bei verbesserten eigenen Zukunftschancen." (S. 150)

Die "moderne" Welt dieser aalglatten "Salamander" und Co. wird schön kontrastiert mit der Ära und Aura des aus der Zeit gefallenen alten Gelehrten Professor Erhart:

"Er hatte in Wien keine Verpflichtungen und keine Familie. Er war in dieser Hinsicht in der schrecklichsten Situation, in der man sich in seinem Alter befinden konnte: Er war frei. Es war seinem exzellenten akademischen Ruf zu verdanken, dass er noch ab und zu Einladungen wie diese erhielt, er nahm sie stets an und bereitete sich akribisch vor, obwohl oder vielleicht weil er zunehmend das Gefühl hatte, nicht mehr Diskussionsbeiträge zu liefern, sondern mit seinen Papers im Grunde Lesungen aus seinem Testament zu halten. Aber dann sollte es eben so sein: den Erben mitzuteilen, dass es das gab, jenseits des Zeitgeists ein Erbe, das anzutreten sie herausgefordert waren." (S. 88)

Man meint, Kanzlerin Merkel reden zu hören, wenn man diese Sprachkritik liest:

"In den letzten Jahren hatte sich eine erstaunliche Sprachverschiebung im Haus durchgesetzt, und niemandem ist es aufgefallen, zumindest hat es niemand kommentiert oder gar in Frage gestellt. Wenn früher gesagt wurde: »ein Problem lösen«, so hieß das jetzt: »das Problem einer Lösung zuführen«. Wenn gesagt worden war: »eine Entscheidung treffen«, so wird jetzt gesagt: »eine Entscheidung herbeiführen«, Statt »etwas zu analysieren«, musste es jetzt »einer Analyse unterzogen werden«. Wenn es geheißen hatte, dass »Vorkehrungen getroffen werden«, so wurden jetzt »Vorkehrungen auf den Weg gebracht«. Man könnte ein ganzes Lexikon der neuen »Comitology-Language« anlegen. und es war erstaunlich, wie in diesem Babylon gewisse sprachliche Tendenzen sofort Allgemeingut in allen Sprachen wurden. George Morland war sensibel genug, dies zu bemerken. Er war kein Semiotiker, kein Herrneneutiker, kein Sprachwissenschaftler, aber er hatte doch das deutliche Gefühl, dass diese Entwicklung ein Zeichen war, eine Bedeutung hatte. die symptomatisch für den Zustand der Kommission war, für ihre Hilflosigkeit, ihre Erstarrung. »Etwas auf den Weg  bringen« war doch eindeutig etwas anderes, etwas Defensiveres als »erwas tun«. Diese Formulierungen verrieten, dass es nicht mehr um ein Ziel ging, sondern nur noch Weg." (S. 380f)

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Häufig (Seghers, Hosseini, Houellebecq) habe ich in dieser Rezensionsreihe kritisiert, dass ... und wie plump manche Autoren versuchen, philosophische, politische, historische Weisheiten und Manifeste in Romanhandlungen und Figurenrede zu pressen, womit das Literarisch-Fiktionale fragwürdig wird. So zeigt sich auch bei Menasse, dass er kein Thomas Mann ist:

"Wenn eine Entscheidung im Kabinett des Ministers in London zu treffen war, dauerte die Debatte maximal dreißig Minuten, inklusive der Rituale und Floskeln am Beginn und am Ende. Da saßen Menschen zusammen, die denselben Background hatten, eine vergleichbare Herkunft, daher auch dieselben Schulen besucht hatten, dieselbe Sprache mit demselben Akzent sprachen, an dem sie einander erkannten, sie alle hatten Ehepartner aus derselben gesellschaftlichen Schicht, sie hatten zu achtzig oder neunzig Prozent deckungsgleiche Biographien und weitgehend identische Er­fahrungen. Es gab ein Problem? In zwanzig Minuten waren sich diese weißen, protestantischen Eliteschulen-Abgänger einig. Was ein anderer in diesem Kreis sagte, klang, als führte man ein Selbstgespräch. Aber hier in Brüssel? Da saßen ständig Menschen zusammen, mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen kulturellen Prägungen, vor allem aus den Staaten im Osten kamen viele auch aus Arbeiter- oder Handwerkerfamilien, sie hatten ganz unterschiedliche Erfahrungen, und alles, was Grace Atkinson in zwanzig Minuten zu klären gewohnt war, dauerte hier Stunden, Tage, Wochen.
Sie fand das faszinierend. Sie musste sich eingestehen, dass die Entscheidungen, die im Zirkel der Eliten in England so schnell getroffen werden konnten, in der Regel nicht den Interessen der Mehrheit der britischen Bevölkerung entsprachen, egal wer regierte. Hier war es umgekehrt. Es gab so viele, so unendlich mühsame Kompromisse, dass deswegen niemand mehr, egal wo, verstand, dass seine Interessen in diesem Kompromiss irgendwie aufgehoben waren. Es war komplizierter, aber es war auch spannender, doch manchmal dachte sie: Man müsste autoritär durchgreifen können, mit Weisungs- und Durchgriffsrecht und - "

Nach dieser soziologisch-politischen Analyse in Form eines inneren Monologs muss der Leser zusammen mit der Figur "schlucken" und zu einem Prosecco greifen, wenn Menasse die Romanhandlung mühsam - und logischerweise auf triviale Weise - wieder aufnimmt:

"Mrs Atkinson' schluckte. Der Gedanke schockierte sie. Jedenfalls keine Mail. Sie hätte es nicht fair gefunden, sich aktenkundig von Frau Xenopoulou zu distanzieren. Absolut nicht fair. Sie schenkte sich noch ein Glas Prosecco ein und beschloss, Fenia Xenopoulou anzurufen." (S. 409f)

Fazit: Wer sich für den Deutschen Buchpreis 2017 interessiert, mag zu Menasses "Hauptstadt" greifen. Wer einen ganz anderen Brüssel-Besuch - als im Bädecker angeboten - vorbereitet, mag das Buch als Reisführer nutzen: Er findet sogar genaue Auskünfte über die U-Bahn. Wer aber die Gelegenheit bekommt, Robert Menasse live zu erleben, muss diesen Schauspieler, Rezitator und Regisseur in eigener Sache unbedingt sehen und hören! Da klingt nicht nur die vom Vorbild Musil beschriebene alte Donaumonarchie an, da ist man fasziniert und bestens unterhalten. - Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, nach der Veranstaltung mit Menasse draußen eine zu rauchen und zu plaudern.

Michael Seeger, 10. Oktober 2018

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