Michael Seeger | Rezensionen | Forum |
Juli Zeh:NEUJAHRLuchterhand München 2019 (btb 71896) 191 S., 11,00 EUR ISBN 978-3-442-71896-2 gelesen Januar 2020
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Sorry! Die überschwängliche Aufnahme dieses Romans ("Vielleicht Juli Zehs bislang bestes Buch"; SZ auf dem Buchdeckel) kann ich nicht teilen.
Es handelt sich um zwei Geschichten, deren eine - über 82 S. lange in der zweiten Hälfte des Buches angesiedelte - im Nachklapp die an Paranoia grenzende Traumatisierung des Antihelden Henning erhellt; ein katastrophales Kindheitserlebnis mit fast tödlichem Ausgang: Die Kleinkinder Henning und die erst zweijährige Luna sind im Ferienhaus auf Lanzarote, ganze drei Tage auf sich allein gestellt, auf unbegreifliche Weise von den Eltern verlassen. Die Situation steigert sich bis zum dramatischen Überlebenskampf. Zunächst warten die Kinder auf die Eltern, die bestimmt bald zurückkommen würden, dann begeben sie sich auf die Suche nach ihnen, um sie schließlich aus der Zisterne vor dem dort hausenden Monster befreien zu wollen. Was die Kinder in ihrem heroischen Überlebenskampf (Essen, Trinken, "Pippi", "Kacka") leisten, verwandelt das Haus in eine chaotische Wüste:
"Die Windel ist auf den Boden gefallen, mit der vollen Seite nach unten. Als Henning zu heulen beginnt, setzt Luna sich hin. Die Kacke ist überall, es stinkt bestialisch, und als Henning versucht, sie wegzuwischen, verteilt er alles nur, statt es zu entfernen. (...) Auch Luna hat sich Feuchttücher genommen und wischt in der Kacke herum." (S. 128)
Windel- und Kinderhygieneproduzenten müssen an der Geschichte ihr Wohlgefallen haben! In letzter Sekunde rettet der Gärtner Noah (der ja normalerweise der Mörder ist!) die beiden vor dem Sturz in die Zisterne. Da begreift der kleine Henning:
"Das Monster sitzt nicht im Loch. Noah ist das Monster. Er ist auf Mama gesprungen, weil er sie fressen wollte." (S. 175)
Noah, der Gärtner, ist kein Mörder; er hat "nur" mit "Mama" geschlafen, was die Flucht- und Trennungsgeschichte zwischen ihr und dem verkifften "Papa" auslöst. ....
Diese schreckliche Kindheitsgeschichte plagt aus dem Unterbewusstsein den überforderten Familenvater Hennig in der Rahmengeschichte. Die Plage zeigt sich als das immer wieder verstörend auftauchendes "ES": Burnout? Panikattacke? Überforderung? Nach einer für Henning desaströsen Silvesterfeier im Urlaub auf Lanzarote (Theresa flirtet und tanzt mit dem "Franzosen"!), steigt Henning am Neujahrsmorgen aufs Rad, quasi um sich freizustrampeln. Im neuen Jahr will er sowieso drei Mal die Woche auf dem Rad trainieren. Auf der Fahrt von Playa Blanca hoch nach Fermés vermischen sich Phantasien, Wahrnehmungen, Halluzinationen des jetzt auch körperlich überforderten Henning mit dumpfen Vergangenheitserinnerungen: Die Kindheitsgeschichte holt ihn ein!
Dies ist der schlimmste Teil des - auch auf dieser Ebene unnötigerweise im Präsens verfassten - Buches. Während Zeh noch in "UNTERLEUTEN" alles über DDR-LPGen und Windkraft sauber recherchierte, dilettiert sie hier in Sachen Topographie und Radsport. Ich bin als alter Mann die Rampe von Playa Blanca nach Fermés in 33 Min hoch gefahren. Es handelt sich um eine Strecke von kaum 9 km mit knapp 400 Höhenmetern - kaum der Rede wert. Henning ist dafür sage und schreibe zweieinhalb Stunden unterwegs, immer wieder notwendige Pausen einschaltend. Von Selbstmitleid triefend ergehen sich seine inneren Monologe in unerträglich weinerlicher Grenzerfahrung:
"Scheiß-Wind, Scheiß-Wind, Scheiß-Wind.
Mit dem Skandieren kommt die Wut. Auf den Wind - warum muss er gerade heute so heftig wehen und dazu aus allen möglichen Richtungen? Auf den Berg - wie zum Teufel kann etwas so steil sein? Auf die Autos, die zu dicht an ihm vorbeifahren. Auf das Fahrrad, das keine noch kleineren Gänge hat.
Scheiß-Wind.
(...) Es ist eine allgemeine Wut. Nicht nur auf Straße, Wind und Berg. Es ist eine Wut auf alles, eine Wut wie ein Energiefeld, wie Hitze oder Licht.
Henning brennt innerlich.
Scheiß-Job, Scheiß-ES, Scheiß-Welt,
Scheiß-Theresa (...)
Scheiß-Jonas, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie.
Scheiß-Bibi " (S. 60f) [Bibi ist die kleine, noch gewindelte Tochter]... womit wir wieder in der Pippi-Kacka-Sphäre wären.
"Im linken Oberschenkel hat er einen Krampf. (...) Beim Gedanken an den letzten Aufstieg spürt er keinen Widerstand. Sein Körper macht sich bereit, ihm weiter zu gehorchen. Setzt letzte Energiereserven frei, transportiert Sauerstoff bis in den hintersten Winkel. Bereit, über die eigenen Grenzen hinauszugehen." (S. 67f)
Wow! Was für eine heroisch-existenzielle Selbstüberwindung! Die Schlussrampe von realen 14 % werden bei Zeh zur 20 %-Steigung. Wie gerne erinnere ich mich da an eine jüngste Leseerfahrung, den tatsächlich sachkompetenten Radfahrerroman "Ventoux"!
Oben in Fermés wiederholen sich dann parallelgeschichtlich-halluzinatorisch die Kindheitserfahrungen vom Schäfer, Gärtner, Einsamkeit und Verlassenheit. Henning plagt der Hungerast! Er beruhigt sich aber: Die Abfahrt würde kaum mehr als eine Stunde dauern! 9 km steil bergab! Ich bin es seinerzeit in 14 Minuten gefahren.
Henning schiebt das Rad den Geröllweg Richtung Volcán Atalaya hoch und kommt zu einem verlassenen Haus. Der Leser ahnt es längst: Es ist das "Spinnen-Haus" seiner Kindheit, wo eine freundliche Lisa, die seiner Mutter ähnelt (Oh Gott!), ihm zu essen gibt.Der schwachmatige Radfahrer braust dann tatsächlich mit 80 km/h (S. 177) die Abfahrt hinab. In der Feriensiedlung angekommen ist dann alles "normal". Die Famile liegt sich in den Armen.
Zu Hause in Deutschland bringt ihn ein Gespräch über Erinnerungen mit Schwester Luna dazu, seine Mutter anzurufen. Jetzt klärt sich alles auf. Es ist ein unglaubwürdiger Psychothriller wie in den Filmen Almodóvars. "Los abrazos rotos", der ebenfalls auf Lanzarote spielt, könnte Pate gestanden haben: Nachdem der kiffende Vater den Beischlaf Noahs mit der Mutter entdeckt hat, braust er mit dem Mietwagen los Richtung Flughafen. Die Mutter zu Fuß hinterher, chartert in Fermés einen Motorradfahrer zur Verfolgung. Es kommt zu einem schlimmen Verkehrsunfall. Die schwer verletzte Mutter wird nach Teneriffa ins Krankenhaus geflogen, wo sie drei Tage im Koma liegt. Nach drei Tagen schaut der Gärtner (zufällig) mal im Ferienhaus vorbei und rettet die Kinder. Arche Noah??
Henning fällt es wie Schuppen von den Augen:
"Er ist traumatisiert. (...) Dreißig Jahre hat er auf einem unterirdischen Speicher gelebt, auf einer Höhle, verzweifelt bemüht, das Loch nicht zu sehen, durch das man hineinfallen kann." (S. 188f)
Oh Kitsch, lass nach. Bitte!
Zur Selbstreinigung schmeißt der entschlossene Henning erst einmal die im "Home-Office" schmarotzende und rauchende Schwester Luna aus dem Haus.
Ich aber schmeiße "NEUJAHR" in die Ecke und hoffe, dass sich Julie Zeh von diesem erzählerischen Absturz rasch erholt.
Michael Seeger, 29. Januar 2020
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