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Erich Kästner

(Fabian) Der Gang vor die Hunde

Atrium Verlag Zürich erstmals 2013; 4. Aufl.2017

ISBN: 978-3-03882-001-7

319 S. 12,00 EUR

gelesen September 2021

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Erst ins Kino - dann ran ans Buch!

Ähnlich wie bei Seghers ist es eine (Neu)Verfilmung, welche zur (Re)Lektüre von Kästners Buch führt. Dominik Graf hat hat eine wunderbare Literturverfilmung mit viel Aufwand (Ausstattung) - eng an den Roman angelehnt - im Jahr 2021 vorgelegt. Drei Jahre nach Langs "Meckie Messer" und ein Jahr nach Burhan Qurbanis "Berlin Alexanderplatz" lässt uns der Film erneut in die Krisenzeit der Weimarer Republik (1931) eintauchen und diese besser verstehen. Ergänzen wir das Panorama noch durch Falladas "Kleiner Mann - was nun?" und die Netflix-Serie "Babylon Berlin", rundet sich unser Bild von den Roaring Twenties in der deutschen Hauptstadt ab. Der Lärm der Metropole und die Hektik dieser Zeit dringt mit schrillen Tönen und schnellen Bildschnitten sowie Simultanbildern an unsere Sinne und in uns hinein - geradezu schmerzhaft. Im Laufe des überlangen Kinoerlebnisses werden Kamera und Schnitte ruhiger und es entfaltet sich schwerpunktmäßig eine ausgedehnte emotionale Love Story, welche stark an TITANIC erinnert. Die Beziehung Dr. Jakob Fabian und Dr. Cornelia Battenberg hat Erich Kästner allerdings eher sachlich distanziert gestaltet. Fabian ist bei ihm ein meist distanzierter Beobachter. Diesen Zug bringt Tom Schilling in Ansätzen gut rüber. Genauso fabelhaft mimen Saskia Rosendahl und Meret Becker ihre Rollen. War es Ziel des Regisseurs, den Film so lange zu dehnen, wie man ungefähr zur Lektüre des Romans benötigt (3:06 Std.)?

Welcher Roman aber? Erst in der Nacht nach dem Kinoerlebnis wird mir klar, dass "mein Fabian" - vor einem halben Jahrhundert gelesen - die auf Verlagsdruck hin gekürzte, beschönigte und entschäfte Fassung von Kästners Manuskript darstellt. Der minutiösen Arbeit Sven Hanuscheks ist es zu verdanken, dass - erst 2013! - die ursprüngliche Gestalt von Kästners Skandalroman uns beglückt und bereichert. Wie immer bei Kästner kommt ein wuchtiger Inhalt in meist einfacher Sprache und harter Lakonie daher. Das fördert ein rasches Lesetempo, wenngleich man gerne jeden zweiten Satz markieren möchte.

In Kästners damaligem Nachwort Fabian und die Sittenrichter "weist (der Autor) wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin" (S. 233). Er war sich klar, dass es bei dem dargestellten mitunter recht pornographischen Inhalt zu einem Aufschrei kommen würde. Auch heute noch verwundert uns die erzählte Welt mit ihrer sexuellen Aufladung. In der späten Weimarer Republik sollen aber immerhin über 130.000 Frauen und Mädchen in irgendeiner Form von Prostitution ihren Lebensunterhalt bestrittenn haben. Kästner liebäugelte auch mal mit dem Buchtitel "Sodom & Gomorrha". In unserer von Sprachpolizei und Prüderie gekennzeichneten Epoche ("Me too") ist der Roman, dessen Autor sich stets als "Moralist" versteht, auch ein gesellschaftliches Dokument über die Veränderung der letzten 90 Jahre.

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Und jetzt einige Textauszüge:

Dr. Moll: "Mir wuchs der Unterleib meiner Frau sozusagen über den Kopf." (S. 18)

Fabian zum sozialistisch gesinnten reichen Labude: "Sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, dass sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden." (S. 73)

Cornelia - ganz feministisch - zu Fabian: "Ich weiß, was euch zu eurem Glück noch fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es wollt. Aber wir sollen weinen, wennn ihr uns fortschickt. Und wir sollen selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt, so sieht euer Paradies aus." (S. 84f)

Wie schätzt Fabian Berlin ein? "Diese riesige Stadt aus Stein ist fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang" (S. 92)

Bevor Fabian Berlin frustriert Richtung Dresden (natürlich zur Mutter!) verlässt, sinniert er: "Eine unsichtbare gespenstische Schere hatte sämtliche Bande, die ihn an diese Stadt fesselten, zerschnitten. Der Beruf war verloren, der Freund tot, Cornelia war in fremder Hand, was hatte er hier noch zu suchen?" (S. 204)

Das Schöne an Grafs Film ist, dass fast alle Dialoge sich aus wörtlicher Übernahme der Romanvorlage speisen. Die Erzählerstimme kommt eindringlich aus dem Off. Die Stadt am Abgrund wird wie im Buch sicht- und vorstellbar. Die Bedrohung durch das Aufkommen der Nazis kommt bei Kästner allerdings konkret kaum vor. Im Film ist sie je länger je stärker bebildert. Schadet eigentlich nicht. Nur, dass der Germanistikprofessor, welcher Labudes wissenschaftliche Arbeit gelobt hatte, hier auch in die nationale Revolution verstrickt scheint, hält nicht nur Carolin Ströbele in der ZEIT für übertrieben. Das schmälert nicht das cineastische Erlebnis.

Also ab ins Kino - und danach mit dem Buch in der Hand den Abend beschließen!

Michael Seeger, 15. September 2021

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