Michael Seeger | Rezensionen | Forum |
Anna SeghersTransitAufbau Verlag Berlin erstmals 1951; 309 S. 12,00 EUR gelesen Juli 2018 |
Normalerweise liest man ein Buch und ist dann motiviert, auch die entsprechende Literaturverfilmung anzuschauen. Hier war es andersherum, was mit Seghers Erzählkonzept der "Verkehrten Welt" durchaus korrespondiert. Schon lange hielt ich die jüdisch-kommunistische Autorin aus Mainz für überschätzt. Geschätzt wird sie sicherlich wegen der Inhalte ihrer Bücher, weniger wegen deren Gestaltung, wenngleich sie sich in den 30er Jahren im Kontakt mit G. Lucács an der sozialistischen Realismusdebatte beteiligte. Der fulminante Film von C. Petzold ermunterte mich, den Roman TRANSIT endlich einmal zu lesen. Das war schnell geschehen.
Nicht ganz so stark wie den Film, der es wagt, das Geschehen in die Jetztzeit zu versetzen, liest man das Buch fast zwangsläufig vor der Folie des Flüchtlingsgeschehens 2015ff. Man zieht Vergleiche zwischen den unsäglichen Bürokratiehürden diverser Institutionen im Marseille des Jahres 1940 und dem nicht gelingenden Versuch unserer Behörden (BAfMF, Frontex, EAEen, Schifffahrtsgesellschaften etc), die Zuwanderung zu regeln. Wieder keimt Empathie mit den Flüchtlingen unserer Tage auf. Sie scheinen allerdings im Abgleich mit den Fluchtschicksalen 1940 im nicht besetzten Frankreich geradezu in Watte gepackt. Wer in Segehrs Roman keine Schiffspassage erlangt, dem droht ein Internierungslager oder Verbannung. Allerdings wundert man sich, dass fast alle Einwanderungsländer (Spanien, Portugal, Mexiko, Kolumbien, USA etc.) in Marseille ein funtionierendes Konsulat unterhalten. Man weiß, dass "unsere" Flüchtlinge mit über 25 Milliarden EURO/Jahr aus Steuergeldern alimentiert werden und dass jeder Einzelne mit den Zuwendungen leidlich an unserem Leben teilhaben kann. In Seghers Roman fragt man sich allerdings, wie die Flüchtlinge ihren mal vorübergehenden, mal dauerhaften Aufenthalt in Marseille finanzieren. Immerhin konsumiert der namenlose Ich-Erzähler in diversen Restaurants täglich (mehrfach) Pizza, Kaffee, Rosé usw. und wohnt im Hotel. Woher hat er nur das Geld?
Neben dem Plot geht es in meinen Rezensionen mehr um die literarische Gestaltung. Sie ist bei Seghers eher dürftig, sowohl was die Architektur des Romans als auch die Sprache anbelangt. Diese ist schlicht (meist Parataxe) bis banal. Die existenziellen Fragen, was denn der Mensch angesichts von Flucht und Vertreibung überhaupt sei, verlangen mehr poetisch-philosophische Anstrengung als den wiederkehrenden inneren Monolog und die ausführlichen (Flucht)Erzählungen der Figuren, welche dem Protagonisten begegnen. Vor allem aber fehlt es an einer Dramaturgie, die dem erzählten Geschehen eignet, so dass sich angesichts zahlreicher Redundanzen schnell Langeweile einstellt. Oder soll das vielleicht die "tödliche Langeweile" poetisieren, welche das abwartende Transitärleben kennzeichnet?
In der Darstellung der Liebe zu Marie fehlt jede Erotik.
Die überraschende Wendung, dass nämlich dem Ich-Erzähler "die Nachricht zu Ohren" kam, "die >Montreal< sei untergegangen" (S. 299), wird ohne jede Dramaturgie mitgeteilt.Warum schätze ich Petzolds Film so sehr? Ihm gelingt es, durch gekonnte Foccusierung auf entscheidende Aspekte des Romangeschehens die oben beschriebenen Defizite von Seghers Erzählweise zu kompensieren. Der Regisseur schafft eine dichte Atmosphäre, eine das Rätsel um Maries Suche umkreisende spannungsgeladene Dramaturgie, er zeichnet Charaktere, bebildert Erotik, Sehnsucht, Eifersucht, Langeweile, Menschenfreundlichkeit, Bürokratie, zerplatzende Hoffnungen und Tragödien und hält uns bis zum letzten Schnitt und der überraschenden Wendung, dass der Ich-Erzähler gar nicht abreist, gebannt im Geschehen anteilnehmend gefangen.
Also: den Film unbedingt anschauen ... und wenn Lust aufkommt, das Buch lesen. Wenn man dabei vor Langeweile ermüdet, ... man muss es nicht zu Ende lesen, es wird nicht besser, als es anfängt.
Michael Seeger, 30. Juli 2018
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