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Robert MenasseDie Erweiterung Suhrkamp. Ffm 2022 653 S. 28,00 EUR gelesen November 2022 |
Kann man die EU-Balkan-Erweiterung, kann man die polnische Justizreform als Roman erzählen? Man kann, wenn man Robert Menasse ist. Und - Chappeau! - Menasse hat sich seit "Die Hauptstadt" erzähltechnisch weiter enwickelt. In meiner Rezension zur Hauptstadt musste ich Manesses Manier kritisieren, "philosophische, politische, historische Weisheiten und Manifeste in Romanhandlungen und Figurenrede zu pressen, womit das Literarisch-Fiktionale fragwürdig wird". Und siehe da: Er hat auf mich gehört. -:). Die literarische Implantation des politischen Geschehens in die von Phantasie sprühenden Erzählhandlungen ist im neuen Roman deutlich geschmeidiger gelungen. Freilich ist auch dieser Roman überladen und ich kann mich selbst zitieren: "Er ist Kritik an der europäischen Bürokratie, ein (nicht aufgelöster) Kriminalroman, Polit-Journalismus, (...), Liebesgeschichte, Skurillitätenkabinett, Geschichtsbuch, Manifest, Holocaust-Rezeption u.v.a.m."
Was in der "Hauptstadt" die Schweine sind, welche die Erzählstränge zusammenhalten, ist diesmal der Skanderbeg-Helm, jenes albanische Nationalsymbol, was an den spätmittelalterlichen christlichen Befreier vom osmanisch-muslimischen Joch erinnert. Der skurille albanische "Chef" erinnert mit seiner Basketballer- und Künstler-Herkunft mehr als allusorisch an den wirklichen Edi Rama, Mateusz, der polinische MP, ist Morawiecki! Und hier bewundere ich, wie es Menasse gelingt, die politischen Fakten als Dokumente in die fiktive Handlung einzupflegen. Sogar der Profifußballer Amir Abrashi, ehemals SC Freiburg, taucht als gönnerhafter Bruder des Gutmenschen Arlind Abrashi in den kosovarisch-albanischen Bergen auf. Irgendwann lässt man als Leser die Frage: "Was ist authetisch, was ist fiktiv?" ruhen und sich vom fulminanten Erzählfluss mitreißen. Das Hauptpersonal tritt gerne im Duo auf, die an Karl May einnernden polnischen Blutsbrüder Mateusz und Adam, der (rauchende!) Wiener Karl Auer, der für mich das Alter Ego des Erzählers ist und seine Geliebte Baia Muniq, welche die albanischen Parlamentsgruppe für die Justizreform leitet, die starke Radioreporterin Ylberes und der liebesunglückliche Regierungssprecher Ismail.
Der Roman spielt in Brüssel, Warschau, Poznan, meist in Tirana und den Balkanbergen und schließlich im skurillen "Sechsten Teil" (ab. S. 553) auf dem albanischen prachtvollen Kreuzfahrtschiff SS Skanderbeg, einer wahren Titanic, auf der in Form eines Virus die apakalyptischen Reiter vorbeikommen ....
Geht Europa also unter? Die Darstellung der zynischen EU-Kommissionspolitik könnte es glauben machen. Hoffnung gibt aber die EU-Hoffnung der Albaner, welche gerade dabei sind, jene Justizreform zu gestalten, von der sich das EU-Mitglied Polen ungestraft verabschieden darf: "Im Grunde ist Politik ein Spiel mit Kulissen, es ist wie im Theater: Vorne hast du die symbolischen Handlungen, dahinter die Technik." (S. 94)
Der Leser lernt viel über albanische Bräuche, den Kanun mit dem zentralen Wert der Gastfreundschaft und die Besa, das Ehrenwort. Diese Nationalwerte gehen so weit, dass Adnit Baxhaku, der vor der SS-Division Skanderbeg einen Juden versteckt hält, statt seiner den eigenen Sohn (in den Tod?) ausliefert. (S. 277f)
Unendlich viele Details hat Menasse gründlichst recherchiert und polyglott dargeboten, so dass neben den kunstvoll geflochtenen Erzählsträngen auch noch Platz für redundante Episoden bleibt, um ein pleonastisches Gesamtbild dieses verrückten und bezaubernden Europa zu malen. Von modernen Tendenzen und Moden ist der Autor (leider!) nicht unberührt, und so muss Ismail etwas gequält über seine nicht binäre Identität grübeln, nämlich "dass es tatsächlich etwas anderes geben konnte als die klare Zuordnung Mann oder Frau, das klare Glück, das eine zu sein und im anderen Erfüllung zu finden, bis man sich scheiden ließ." (S. 473)
Auch wenn der Verrat der "europäischen Werte" angesichts von tausenden Flüchtlingstoten im Mittelmeer angeprangert wird, endet der Roman mit einem hoffnungsvollen Finale:
"Die Sonne ging blutrot unter. Und aus allen Lautsprechern an Deck erklang die 'Arie S'a voi penso, o Luci belle' aus Vivaldis Scanderg-Oper."(S. 653). Fitzcarraldo lässt grüßen.
Michael Seeger, 20. November 2022
Einblicke in die Familiengeschichte bietet das Spiegelinterview mit den Geschwistern Eva und Robert Menasse.
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