Michael Seeger

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Klaus Mann:

Treffpunkt im Unendlichen

Roman (1932)

Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1981 rororo 4878

252 S., 12,00 EUR (als gebundenes Buch gar nur 3,95 EUR)

ISBN: 3-499-14878-1

gelesen März 2023

cover

Mehr als eine Studie zum "Mephisto"?

Die Bohème der frühen Dreißiger Jahre ist so abgehoben wie unglücklich.

Warnung:

Wer in der aktuellen (Anti)Rassismus-Debatte um W. Koeppens Roman TAUBEN IM GRAS (wird als nächstes hier besprochen) als Abiturlektüre in Baden-Württemberg auf der Seite der empörten Lehrerin Jasmin Blunt (https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/tauben-im-gras-streit-abi-lektuere-rassismus-100.html#xtor=CS5-282) steht, lasse Klaus Manns Roman lieber links liegen. Denn auch hier ist von Negern die Rede (z.B. S. 65f, 91, 216).

Wir kennen diese Welt der Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre (in Berlin) aus KLEINER MANN WAS NUN?, aus FABIAN; aus Keuns DAS KUNSTSEIDENE MÄDCHEN, aus der DREIGROSCHENOPER, aus DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN (Wien 1913), aus BERLIN ALEXANDERPLATZ usw. Anders als bei Döblin, Kästner und Fallada bewegt sich Klaus Mann nicht im Proletariat oder der abgesunkenen Mittelschicht, auch nicht unter Kriminellen und Bettler-Königen wie bei Brecht, sondern in der ihm eigenen Lebenswelt der großstädtischen - eher parlierenden als arbeitenden - Bohème. Wenngleich Berlin und Paris nicht Wien sind, ist das Personal, das Ambiente, sind die Salons doch eher die Welt von Musils Kakanien.

Was beherrscht Klaus Manns Erzählte Welt? Vor allem die Drogen. In jeglicher Form: Zigarr(ett)en, Spirituosen, Sekt; mehr noch die Rauschgifte: Da geht es von Beginn an seitenlang um Koks, Haschisch, Morphium.

Um was geht es noch? In dem handlungsarmen Roman wird viel (indoor!) geredet. Wird disikutiert? Eher monologisieren die Protagonisten recht abstrakt, folgenlos und welfremd über die Zeiten und Systeme:

">>Sowietdeutschland mit aufbauen zu helfen, wäre ohne Frage eine lohneswerte Aufgabe .... und im faschistischen Staat wird es vielleicht auch keine reine Lust zu atmen sein <<" (S.84)

Wenn unten auf der Straße ein Horde SA-Männer brüllend die Kommunisten einzuschüchtern sucht, ist dieser Einbruch der Wirklichkeit im Elfenbeinturm schnell wieder mit einem Schluck Sekt hinuntergespült.

Was machen die überwiegend jungen Menschen? Sie feiern, saufen, intrigieren, schmachten, heiraten (und reden darüber), schwadronieren, tanzen, protzen, brechen Ehe, schachern, kotzen, reisen, schreiben ....

Die ca. ein Dutzend Figuren sind allesamt unglücklich. Sie leiden an mangelndem Ruhm, an Eifersucht, an Erfolglosigkeit ... und mehr als an der Welt - an sich selbst. Auch in der Zweisamkeit sind die Liebenden einsam, orientierungslos, Opfer ihres Reichtums (Bankdirektor Bayer) oder ihrer Armut und Häßlichkeit (Froschele). top

Mann lässt das "Geschehen" (besser wäre "Gerede") an zahlreichen Schauplätzen spielen: Berlin, Paris, München, Nizza, Seviilla, Granada, Cadiz, Algier, Fez, Ouidjda). So zahlreich die Orte, so zahlreich die Figuren. Da fährt Sebastian, das Alter Ego des Autors, nach Paris, ist aber bald wieder zurück in Berlin, um im letalen (für Soja letal) Finale nach Marokko und Algerien zu reisen. Ich habe den Eindruck, dass der Autor erst gar nicht versucht hat, die Erzähl-"Stränge", besser Episoden, erzähltechnisch zusammenzuknüpfen, dem Roman eine architektonische Struktur zu geben. So bleibt die ein oder andere Episode eher willkürlich oder gar verzichtbar.

Wir lesen von einem Drogentod (Sonja in Marokko/Algerien) und zwei Suiziden, die 1932 noch ungeniert "Selbstmorde" sein durften. Die Tänzerin Grete - geliebt und verlassen von mehreren Männern - fährt in Paris als Unfall getarnt gegen einen Baum. Der jüdische Schriftsteller Darmstädter gibt sich in Nizza die Kugel, fast eine frühe Antizipation von des Autors Suizid siebzehn Jahre später. Beginnend mit

"Ich will überhaupt keine Betrachtungen mehr schreiben. Nicht mehr eitel mich selbst bespiegeln und durch Selbstanalyse heimlichen Selbstkult treiben. Sich stumm opfern. Sterben. -" (S. 176)

reflektiert der schwule Jude sein (und der Welt) Unglück und bereitet sich ein ganzes Kapitel lang (9. Kap) auf den Schuss vor. Der wahre Grund ist wohl, dass sein geliebter Gigolo Tom, dem er testamentarisch zwanzigausend Mark vermacht, nicht mit ihm schlafen will.

Der einzige Versuch, die Orte und Personen zusammenzubinden, ist eine VIP-Reportage, in der das fiktive Gesellschaftsblatt "Das kleine Journal" über Tode, Machenschaften und Lieben spekuliert (S. 198f).

Sprachlich changiert Klaus Mann zwischen Präteritum und (unvermittelt) Präsens - ohne funktionalen Sinn. Er wechselt abrupt die Perspektive:

"Walter begann langsam zu essen.

Haus Bayer.
Sonja an der Tür zum Tanzsaal ..." (S. 72)

Nominalisierte "Regieanweisungen", Sprünge ins Präsens, Telegrammstil kennzeichnen die Schreibweise als szenisches Erzählen.

Berühmt ist der Roman nicht. Die Literaturwissenschaft will in ihm vor allem die Vorwegnahme der Höfgen-Figur aus dem MEPHISTO durch den Tänzer Gregori sehen. So charakterisiert verwandelt sich Gregori tatsächlich in die Höfgen-Figur:

"Er vereinigte einen gewissen üppig dekadenten Geschmack mit populären und derbsten Wirkungen. ... Er wollte herrschen, er gierte nach Macht." Er ist "der tänzerische Herrenmensch. ... Eines Tages wurde bekannt, daß Gregori eigentlich Faschist war." (S. 99f)

Noch deutlicher wird diese Höfgen-Gründgens-Affinität in Sebastians Traum:

"Mir fiel nur auf, daß er ein wenig hinkte und daß sein einer Schuh ein gut Stück kürzer als der andere war, .... daß es sich um einen Pferdefuß handelte." (S. 215)

Das berrschende Motiv ist für mich aber die Einsamkeit - auch in der Zweisamkeit:

"Beide grübeln. Sebastian und Sonja: Gemeinsam und doch getrennt." (S. 248)

Einsam und unglücklich sind auch der homoerotische Münchner Internatsschüler Peti und sein angebetetes Idol Elmar. Der Roman schließt mit einer Andeutung von Elmars Freitod:

"Ich muß aufhören, denn ich habe wirklich unbeschreibliche Angst. daß mit Elmar etwas ernsthaftes los ist." (S. 252)

Was für eine unglückliche Generation, die - ohne Bodenhaftung - sich so weit von der bürgerlichen Welt des Übervaters Thomas Mann entfernt hat!

Michael Seeger, 03.04.2023 top

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