Michael Seeger Rezensionen Forum

Jasmin Blunt

Deutschlehrerin Jasmin Blunt: "Rassismus!"

Wolfgang Koeppen:

Tauben im Gras

Roman (1951)

Suhrkamp, Frankfurt/M. 1980 st 601

228 S., 8,00 EUR

ISBN: 978-3-518-37101-5

gelesen April 2023

cover

Autor

Blunt im Abseits

Soll wieder einmal der Bote für die Botschaft getötet werden?

Ist Wolfgang Koeppen der deutsche James Joyce? Steht er in der kongenialen Nachfolge Döblins? Kennt man die deutsche Literatur nach 1945 nicht, wenn man "diesen Roman nicht gelesen hat" (M. Reich-Ranicki)? Ist es der "zu früh gekommene Roman" (Günter Grass), der ob seiner Modernität nicht verstanden und geschätzt wurde?

Der Roman spielt wie beim Ulysses an nur einem Tag in einer deutschen Großstadt im Jahr 1951. Unschwer mag man darin München erkennen (Bräuhaus, Rettiche, Weißwürste, Lederhosen, "Schmarren"). Multiperspektivisch und nur wenig stukturiert entfalten sich vor us über Hundert "Episoden". Das Personal ist unübersichtlich. Ca. 30 Figuren bewegen und begegnen sich und lassen uns an ihren Einstellungen, Ängsten und Träumen teilnehmen. Der reine Erzählbericht ist äußerst knapp. Es überwiegt die Figurenrede, technisch durch Erlebte Rede, Inneren Monolog, Direkte Rede, stream of consciousness gestaltet. Der Text und die Figuren sind - wie in Berlin Alexanderplatz - Collagen und Montagen. In Majuskeln formatierte Versatzstücke aus der realen Propaganda- und Reklamewelt montieren Nazi-Parolen, Werbeslogans, Sprichwörter, Zeitungs-Schlagzeilen in den Text. Das geht so (Josef, der Dienstmann, Teilnehmer des Ersten Weltkrieges mit seinem "Gast", einem schwarzen US-Besatzungssoldaten in einer Kneipe):

"Die Griechen trauten sich nicht an ihre Messer. Der weiße Hirsch war ihnen entwischt. Der schwarze Odysseus war ihnen entkommen: listiger großer Odysseus. Er gab Josef Geld, das Bier zu bezahlen. 'Zuviel, Mister', sagte Josef. 'Nix zuviel money', sagte Odysseus. (...) 'Komm', rief Odysseus. >>Appell an den Haag<<, sagte die Stimme. Die Stimme wurde von Josef getragen, WILHELM II. FRIEDENSKAISER STIFTET FÜR DEN HAAG, von Josef geschüttelt, er schüttelte mit seinem Altmännergang das Geriesel der großen Worte. Der Strom der Geschichte floß. Zuweilen trat der Strom über die Ufer. Er überschwemmte das Land mit Geschichte. Er ließ Ertrunkene zurück, er ließ den Schlamm zurück, die Düngung, das stinkende Mutterfeld, eine Fruchtbarkeitslauge. Josef (...) fogte dem schwarzen Gebieter, dem Herrn, den er sich für diesen Tag erwählt hatte. (...) Wann kam das goldene Zeitalter, die hohe Zeit -" (S. 83f) top

Es ist ein Tag in München, ein Tag in der amerikanischen Besatzungszone. Die Deutschen ersticken in Konventionen, Angst, Einsamkeit, an ihrer Nazi-Vergangheit, an ihrer geleugneten Schuld, an ihrer Verarmung und der sie umgebenden Zerstörung in der Trümmerstadt. Hehler auf dem Schwarzmarkt, Nutten und Zuhälter in den Kneipen und auf den Straßen, schwarze und weiße Militärpolizisten bevölkern die Stadt. Die krasse Konfrontation mit den Besatzungssoldaten, vor allem mit den "Negern", hat nichts von der "Weinerlichkeit der Trümmerliteratur".1 Es ist die Begegnung der besiegten Deutschen mit ihren amerikanischen Siegern. Die Menschen changieren zwischen Bewunderung [Jazz, Reichtum, Zigaretten, Liebe, Notgeilheit (S. 49)] und Abgrenzung, Abscheu. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" (B.B.). Die rassistische Nazi-Propagande wirkt fort:

" 'He Joe, Dollar? (...) Joe, ein Girl?' (...) Sie warteten, Geflügel auf Bestellung täglich frisch, blickten durch die Scheiben, was die Schlepper trieben, ob sie winkten, ein Schwarzer, die waren gutmütig, gaben großzügig, gehörte sich so, minderwertige Kerle, zerrissen einem den Unterleib: 'müssen froh sein 'ne weiße Frau zu kriegen, Entwürdigung von uns. (...) Sie umschwärmten sie: Maden am Speck (...), Gesichter, die Gott vergessen hat, Ratten, Haifische, Hyänen, Lurche, kaum noch mit Menschenhaut getarnt, (...) arme Schlucker auch, Heimatlose, Verwehte, Opfer des Krieges. Sie wandten sich an Josef (...): 'Braucht dein Nigger deutsches Geld?' - 'Wir wechseln deinem Nigger.' - 'Will er ficken? Drei Mark für dich. Darfst zugucken, Alter.' " (S. 41f)

Ja, die Stimmen der Protagonisten (Figurenrede!) reden von "Negern", "Niggern", "deinem Neger", "der Nigger deiner Mutter" - insgesamt 101 Mal! Nicht im Erzählbericht! In der Figurenrede, womit der Autor Koeppen den Rassismus der Nachkriegszeit entlarvt, bloßstellt, brandmarkt und immer wieder durchscheinen lässt, wie dies alles schweres Erbe der Nazizeit ist.

Und da wären wir bei Jasmin Blunt. Die "poc", Deutschlehrerin aus Ulm, möchte den Roman aus dem Kanon der Abiturpflichtlektüre an beruflichen Gymnasien entfernt wissen. 2 Sie als "Schwarze" fühle sich - auch im Blick auf schwarze Schüler/innen - durch das Buch so diskriminiert und angegriffen, dass sie zunächst um "Befreiung" von dieser Unterrichtslektüre gebeten und schließlich zum Selbstschutz in die freiwillige Beurlaubung gegangen ist. Darüberhinaus hat sie eine Petition gestartet mit dem Ziel, das Buch als Schullektüre zu bannen. Das Medienecho war und ist gewaltig. Was für eine Aktion, was für eine Lehrerin, was für eine Germanistin! Blunt hätte doch - verstärkt durch die individuelle Betroffenheit - den Roman von ihren Schülern erarbeiten lassen können, hätte die künftigen Abiturienten lernen lassen können, wie man Erzählbericht und Fugurenrede unterscheidet, hätte den Rassismus der 50-er Jahre markieren und die antirassistische Haltung des Autors herausdestillieren lassen können. Offensichtlich hat sie aber nur schockiert "Neger" gelesen, konnte nicht mehr differenzieren, hatte ihr Studium vergessen - oder Epik nie studiert. Da ward Blunt blind.
Ihre Aufregung erinnert mich an die ungerechten Herrscher der Shakespearschen und antiken Tragödien, die aus Entsetzen über die Botschaft den Boten attackieren.

Zurück zum Roman. In den spukt auch die Antike kräftig hinein. Schon dass der schwarze "Herr" des Dienstmanns Josef Odysseus heißt, erinnert nicht nur an James Joyce, sondern auch an den listigen Irrfahrer aus Ithaka. Das schwarz-weiße Paar durchstreift/irrt und erkundet die Stadt und begegnet dabei vielen der anderen Figuren. Susanne, eine Halbnutte, beklaut zunächst den guten, reichen Odysseus, will ihn dann aber irgendwie "retten": In Susanne stecken "uralte Wesen (...) Kirke, die Sirenen und vielleicht Nausikaa." (S. 157). Odysseus ist auch eine Charonsgestalt. Vom Styx ist wörtlich die Rede und für Josef geht es tatsächlich durch den Fluss. Josef, der alte Dienstmann mit seinem Ersten-Weltkriegs-Trauma, ist tödlich am Kopf getroffen. Durch Odysseus? Eher durch die vom aufgebrachten Mob entfesselte Steinigung. Die Fama biegt den Spieß rasch um und wabert durch die Stadt:

" 'Der Nigger hat den alten Josef totgeschlagen!' (S. 166). Ein Neger hatte einen Taxichauffeur umgebracht oder einen Dienstmann, Heinz wußte es nicht genau. (S. 195) (...) Die allmächtig unheilwebende Fama erhob aufs neue ihr Haupt und kündete ihre Mär. Die Neger hatten ein Verbrechen begangen. (...) Vielen war der Negerclub ein Ärgernis. Vielen waren die Mädchen, die Frauen, die sich mit Negern einließen, ein Ärgernis." (S. 208) top

Der Mob, zunächst ohne Führer, schmeißt die Scheiben im "Club der Negersoldaten" ein. Die Assoziation zur Reichspogromnacht ist überdeutlich (S. 216). Die Darstellung der entfesselten Gewalt ist eine der wenigen Textstellen, in denen die Erzählerstimme ganz Erzählbericht ist und nicht die, ja, bösen, Gedanken und Kommentare der noch von der Nazipropaganda verseuchten "Bürger" sprechen lässt. Die Passage ist geradezu moralisierend und belegt, dass nicht der Roman rassistisch ist, sondern die Erzählte Welt, die dargestellte Wirklichkeit der frühen Fünfziger Jahre:

"Eine neue Welle der Wut schäumte aus der Menge. Die zerbrochenen Fenster hatten sie ernüchtert, aber da sie menschliches Wild sahen, erwachten ihre Jagdinstinkte, die Verfolgungswut und das Tötungsgelüst der Meute. Pfiffe gelten, 'der Mörder und seine Hure' wurde gerufen, und wieder flogen die Steine. Die Steine flogen gegen die horizontblaue Limousine. Sie trafen Carla und Washington [ein schwarzer Sergeant, der Carla geschwängert hat, der trotz aller Schwierigkeiten 'das Band zwischen Weiß und Schwarz nicht lösen" (S. 166) will. M.S.]. (...) Die ruchlos geworfenen Steine trafen Amerika und Europa, sie schändeten den oft berufenen europäischen Geist, sie verletzten die Menschheit, sie trafen (...) den Traum von Washington's Inn, den Traum NIEMAND IST UNERWÜNSCHT, aber sie konnten den Traum nicht töten, der stärker als jeder Steinwurf ist, und sie trafen einen kleinen Jungen, der mit dem Schrei >Mutter< zum horizontblauen Wagen gelaufen war." (S. 218)

Was hätte Jasmin Blunt nicht alles unterrichten können! Was hat sie sich und ihren Schülern entgehen lassen! Gerade sie als Schwarze hätte - meinetwegen ausgehend von der eigenen Betroffenheit - in der Erarbeitung des Romans offen legen können, welcher - noch von der Nazizeit gespeiste - Ungeist auf dem "verdammten Schlachtfeld" (Schlussworte S. 228) eines "in zwei Teile gebrochen"en (S. 10) Deutschland herrschte und in neuer Gestalt herrscht.

Wir pfeifen J. Blunt nicht aus ihrem Abseits zurück, wir gönnen ihr eine befreiende Zeit der Beurlaubung vom Literaturunterricht, vielleicht mit der Gelegenheit, das Feld EPIK nachzustudieren. Ihren Schülern wünschen wir eine Lehrkraft, die es aushält und die Jugendlichen aushalten lässt, literarisch dargestellte Brutalität zu analysieren.


1 Jürgen Klein: https://literaturkritik.de/id/22215 (Aufruf 14.04.2023)

2 https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/tauben-im-gras-streit-abi-lektuere-rassismus-100.html#xtor=CS5-282 (Aufruf 14.04.2023)

https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/pflichtlektuere-tauben-im-gras-petition-wegen-rassismus-100.html (Aufruf 14.04.2023)

Michael Seeger, 14.04.2023 top

 © 2002-2023 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 19.04.2023