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Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften

Roman. Bd.1 (1941)

Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1978 1.041 S. 48 DM 

ISBN 978-3 498 09285 5

gelesen im Laufe des Jahres 2021

Musil_1941

Der Rezensent ohne Idee

Abstrakteste welt- und menschenerklärende Philosopheme werden um blass bleibende Figuren herum gruppiert.

Ja, das Roman genannte Konvolut musste eines Tages durchgearbeitet werden. Eines Tages? Nein, eines Jahres! Ich habe das ganze Jahr 2021 mit Unterbrechungen damit zugebracht.

Eine wirkliche Narratio gibt es nicht. Zwar spielt der ROMAN zwischen August 1913 und Frühjahr 1914 in Wien und ist auch thematisch verortet mit dem Diskurs zwischen Pazifismus und rassistisch-völkischem Nationalismus, dem Diskurs um Sexualwissenschaft (dem sich die Gesellschaftsdame, heute würde man sagen "Denkfabrik", Diotima hingibt), um "Gefühl" versus Ratio. Reflexionen um die "Seele", das "Allgemeine", die "Menschheit", "Gut" und "Böse" durchziehen das Werk, sind häufig als Innere Monologe gefasste Gedanken Ulrichs, des Mannes ohne Eigenschaften, der ein Jahr "Pause vom Leben" nimmt, um neben dem "Amt" als Sekretär der abstrusen Parallelaktion sich einer vita contemplativa zu widmen, werden vom allwissenden Erzähler aber auch in Dialoge, Trialoge, Multiloge der übrigen Figuren montiert.

Man hätte sich gewünscht, dass das von Musil Kakanien genannte Österreich schärfer portriert worden wäre also so, einem Land, "dem Gott den Kredit, die Lebenslust, den Glauben an sich selbst und die Fähigkeit aller Kulturstaaten entzog" (S. 528).

Man wundert sich, wie vornehm-diskret der beobachtende und wertende Erzähler in einem durchsexualisierten Geschehen den Koitus beschreibt (S. 185, 417, 605, 728). Der Feminismus klopft an die Türe Europas, z.B. wenn Musil in Erlebter Rede Ulrichs Schwester Agathe so reflektieren und empfinden lässt:

"Die ausgeführte Vorstellung und Theatralik der Liebe ließ sie unberauscht. Diese hauptsächlich vom Mann ausgebauten Regievorschriften der Seele, die alle darauf hinauslaufen, daß das harte Leben hie und da eine schwache Stunde haben soll, - mit irgendeiner Unterart des Schwachwerdens: dem Versinken, dem Ersterben, dem Genommenwerden, dem sich Geben, dem Erliegen, dem Verrücktwerden und so weiter- kamen ihr schmierenhaft übertrieben vor, da sie sich in keiner Stunde anders empfand als schwach, in einer von der Stärke der Männer so vortrefflich erbauten Welt." (S. 728)

Da gibt sie sich nach Trennung vom Ehemann Hagauer lieber den an Inzest grenzenden Berührungen und Phantasien mit ihrem Bruder Ulrich hin. (S. 939, 944, 1025).

Wenn man im ZWEITEN BUCH, der Wiederbegegnung mit der Schwester anlässlich des Vatertodes, tatsächlich eine Handlung - wenn auch keine kontinuierliche, findet, bleiben zwei Drittel des Buches reine um Figuren gespiegelte Abstraktionen:

"Hans hatte dafür unermeßliche Worte; das transzendente an Stelle des Sinnenichs, das gotische Ich an Stelle des naturalistischen, das Reich der Wesenheit an Stelle der Erscheinung, das unbedingte Erlebnis und ähnliche gewaltige Substantiva, die er seinem Inbegriff unbeschreiblicher Erfahrungen unterschob, wie das nebenbei bemerkt, zum Schaden der Sache und Erhöhen ihrer Würde eine verbreitete Gepflogenheit ist´ (S. 527)

In den letzten Kapiteln spürt man die aggressive Aufgeladenheit vor dem Ersten Weltkrieg, allerdings nicht in der Eindringlichkeit und Plastizität, wie das Thomas Mann im Romanschluss des Zauberbergs gestaltet. Der Gipfel aller Reflexionen, welche die Gesellschaft der Hausherrin Diotima sich über die bevorstehende "Tat" leistet, ist dann dieser "Beschluss":

"Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder!" (S. 1035)

Diese "ekelerregend (...) geistigen Debatten" (ebd.) dürfen aber auf keinen Fall an die Öffentlichkeit. Denn nicht nur Ulrich, nein, das gesamte Personal, die Zeit als solche sind "ohne Eigenschaften".

Michael Seeger, 30.12.2021

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