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Thomas Mann:Der ErwählteRomanS. Fischer (FT 1532), Frankfurt 1974 (© 1951), 201 S., DM 7,80 ISBN 3-596-21532-3 nach einem halben Jahrhundert wieder gelesen im August 2022 |
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Der Fischer, welcher Gregorius auf einem Stein im See - festgeschlossen - ausgesetzt hatte, fängt nach 17 Jahren einen Riesen-Fisch, in dem der damals in den See geworfene Schlüssel sich findet. Die römischen Abgesandten staunen; sie sollen/wollen Gregorius zum Papst machen. Auf die Mahlzeit verzichten sie.
In seinem späten Leben ist Thomas Mann offensichtlich vom Religiösen gepackt und fasziniert worden: die Joseph-Tetralogie, Das Gesetz und schließlich die Nachdichtung des Gregorius von Hartmann von Aue legen davon Zeugnis ab. Das Katholisch-Mystische im "Erwählten" überlagert stark die wie immer bei Thomas Mann vorhandene ironische Handschrift, so dass ob des wenig faszinierenden Inhalts nicht das sonst beim Autor zwingende Lesevergnügen aufkommt. Dargeboten wird der Roman vom irischen Mönch Clemens im Kloster St. Gallen. Der - als "alles vorwissender Erzähler" - sieht sich als "Geist der Erzählung". Das Spiel dieser Erzählerfigur mit dem Stoff und dem Leser nervt - je länger, je mehr. Köstlich wird die Beobachtung des frommen Mannes, wenn es um das Schlüpfrig-Sexuelle in diesem mehrfachen Inzest geht.
"Ich möchte sie (die Natur, M.S.) zur Rede stellen und sie fragen, wie sie's denn fertigbringt und es über sich gewinnt, zu wirken und zu werken ganz wie gewöhnlich an einem anständigen Jüngling in solchem Fall, ihn sich freuen zu lassen wie ein Narr an den Brüsten, die ihn säugten, und ihn strotzend ermächtigt, den Schoß zu besuchen, der ihn gabar.! (S. 124)
Sprachlich kreiert Thomas Mann "ein kurioses Cross-over-Idiom" (Deutschlandfunk Kultur), in dem "sich Mittelhochdeutsch, französische und lateinische Phrasen sowie ein plattdeutsch verballhorntes Englisch mischen". Das Mittelhochdeutsche hat - logischerweise alemannische Anklänge: Jeschute "erlugte, (...), glubte, (...) glostete". So kommt die "Geile" zu "Erlugungen". (S. 128)
So spannend sich der mysteriös-märchenhafte Plot aufbaut, so schnell und geradezu realistisch eilt die Fabel ihrem glücklichen Ende entgegen. Es ergeht Gnade vor Recht. Der einst sündige Gregorius wirkt als guter, kluger Papst in der Welt und der einst sündig-inzestuösen Familie: Alles wird gut!
Ob es der "unterschätzteste Roman des Nobelpreisträgers" ist, mag ich bezweifeln.
Michael Seeger, 11.09.2022
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