Michael Seeger | Rezensionen | Forum |
Franz Werfel (1933)Die vierzig Tage des Musa Dagh
990 S. 14,95 EUR gelesen Juni-September 2018 |
In diesen Tagen des umstrittenen Staatsbesuchs Recep Tayyip Erdogans in Deutschland wird wieder einmal deutlich, wie einheitlich wir Deutschen incl. des Feuilletons die Türkei und vor allem deren derzeitige Regierung sehen. Zugleich aber offenbart sich auch ein allgemeines Unwissen um die Türkei und vor allem um deren Geschichte sowie der Geschichte des Osmanischen Reiches aus dem die "Jung"Türkei hervorgegangen ist. Ein wenig Licht ins Dunkel brachte die von Cem Özdemir initiierte Resolution des Deutschen Bundestages zum Völkermord an den Armeniern. Eher misslungen ist Fatih Akins Film "The Cut" (2014) zum gleichen Thema: Der Streifen ist im Plot und der Darstellung kitschig-sensationslüstern, die Kritik nennt das Werk durchweg "hölzern".
Unter den wenigen Versuchen, die Leidensgeschichte des armenischen Volkes darzustellen, ragt Franz Werfels opulenter Roman heraus. Völlig zu Recht wurde dem Österreicher posthum 2006 die armenische Ehrenbürgerschaft verliehen.
Das Werfel-Denkmal im Wiener Schillerpark trägt die Aufschrift:
„In Dankbarkeit und Hochachtung. Das armenische Volk.“
Also eine Geschichserzählung, welche zwanghaft in einen literarischen Plot gedrückt, bzw. welche einen solchen Plot aufgesetzt bekam, wie ich das bei manchem historisch-politischem Roman kritisieren musste (Seghers, Hosseini, Houellebecq)? Nein! Werfels der Realität auf authentische Weise nachgestaltete Romanhandlung, seine Figuren, vor allem seine Sprachmächtigkeit verleihen dem Werk neben dem oft gerühmten dokumentarischen Wert eben auch ein eigenständiges literarisches Gewicht. Auf die Genauigkeit kann man sich als Geschichtsinteressierter durchaus verlassen. Wenn man nach dem protestantischen Theologen Johannes Lepsius, einem Fürsprecher des armenischen Volkes, wenn man nach den Kriegshandlungen am Mosesberg, wenn man nach den osmanischen Kriegsminister Enver Pascha oder nach dem rettenden französischen Kriegsschiff Guichen forscht, findet man, dass Werfel die Historie authentisch dargestellt hat, man das Buch also sehr wohl als historische Quelle nutzen mag:
"Die Türkei aber besaß keine oder beinahe keine Rüstungsindustrie. Sie war ganz von der Gnade Krupps in Essen und Skodas in Pilsen abhängig." (S. 400)
Mich interessiert in dieser Rezenionsreihe aber mehr die literarische Gestaltung. Und da bekommt Werfel viele Punkte! Ohne die metaphorische Sprachkraft eines umfassend gebildeten - und daher auch bildenden - Autors hätte man wohl nicht die Ausdauer gehabt, sich das fast 1.000-seitige Werk anzueignen. Bei aller Parteinahme für den Heroismus der 5.000 Armenier in ihrem Widerstand gegen die "Verschickung" werden diese Helden nicht zu Heiligen hochstilisiert. Sie sind Menschen aus Fleisch und Blut, differenziert dargestellt: eindimensionale ideologische Charaktere, Menschen voller Selbstzweifel und Wandlungen, Intriganten, Hedonisten, Ehebrecher, Verräter, Gutmenschen, kleingeistige Neider, überlegene Patriarchen (Ter Haigasun) Narzissten, Egoisten, Lügner, treue Freunde, weltfremde Philister wie Krikor ("Kriege, die nicht schon zu Büchern geworden waren, mißachtete er." (S. 71). Werfel kommt auktorial allwissend daher, verzichtet infolgedessen auch nicht auf zahllose Bewertungen und Sentenzen. Der allwissende Erzähler wechselt mühelos die Perspektive, schildert Parallelhandlungen, adelt auch widerstreitende Figuren mit erlebter Rede und innerem Monolog und verschont niemanden von seiner ethisch begründeten Wertung. Diese ist allerdings aufgrund der Parteinahme für das geschundene armenische Volk und aufgrund der christlich-eurozentrischen Geisteshaltung, wie sie der Entstehungszeit des Romans eignet, durchaus auch - aus heutiger Sicht - rassistisch zu nennen. Da werden osmanische Soldaten und "mohamedanische Taugenichtse" dämonisiert und animalisiert.
- Die versuchte Vergewaltigung Iskuhis liest sich so: "Über ihr ging ein furchtbares Gesicht auf, riesig, mit schmutzigen Bartstoppeln, schnaufend, augenrollend stinkend, nicht menschlich. Sie schrie noch einmal gellend und dann rang sie stumm mit dem Mann, dessen Speichel auf sie herabtroff, dessen braune Tatzen ihr das Kleid zerrissen, um sich in ihre nackten Brüste einzukrallen".
- Eine fanatische islamische Sekte bekommt dieses Denkmal: "Sogar eine kleine Gruppe von Ansarijes hatte sich eingefunden, die niedrigsten Parias des Propheten, volkloses, halbarabisches Knechtsgesindel, das nun die seltene Möglichkeit benützte, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen. (S. 298).
- Sato hat ein nicht zu bändigendes "Steppengemüt" (S. 312).
- "Bagradian faßte ihn mit solch verächtlichem Ernst ins Auge, daß sich das Spiel zu verkehren drohte und ein hochgewachsen kriegerisches Armenien einem rothaarigen, verdrückten und schlechtrassigen Osmanentum gegenüberstand." (S. 315)
- "Selbst Haik, über vierzehn Jahre schon, hoch aufgeschossen und muskelstark, das unbestreitbare Haupt der Bande, besaß das gesammelte, planende und folgerichtige Denken nicht, das Stephan aus Europa mitgebracht hatte. Diese orientalischen Kinder vergaßen ihre Pläne meist schon vor der Ausführung, sie wurden von ihren kurzatmigen Einfällen, von ihrer dumpfen Triebhaftigkeit herumgewirbelt wie Laub im Wind." (S. 407)
- "Wiederum war es ein abendländischer Mann (drei Studienjahre in Genf), der Gabriels Kampf gegen östliches Geschehenlassen so erfolgreich unterstützte." (S. 428)
- "Wie ein wütender Neger bleckte Stephan die Zähne." (S. 593)
- "Diese verschlafene Gesellschaft, die sich der Schafnatur angeglichen hatte, ..." (S. 759)
In der Begegnung des Armenierhelfers Lepsius mit Enver Pascha lässt Werfel den Theologen im inneren Monolog sinnieren: "Wäre dieser Mensch dort nur böse, wünscht er sich, wäre er der Satan. Aber er ist nicht böse und nicht der Satan, er ist kindhaft-sympathisch, dieser große unerbittliche Massenmörder" (S. 169).
Geistesaristorkratisch wird die Beziehung Führer (Gabriel Bagradian) - Volk geschildert: "Unter ihnen (den Armeniern) fand sich kein Mann vom Wuchse Awetis Bagradians, des Alten. Sie schlossen die Fensterläden ihrer Villen und verkrochen sich in die finstersten Winkel. Zwei oder drei waren, um Leben und Vermögen zu retten, zum Islam übergetreten und hatten sich dem stumpfen Beschneidungsmesser des Mollah dargeboten" ( S. 247).
Die Versammlung, aus welcher schließlich der Widerstand und die Organisation des Kampfes gegen den geplanten Völkermord hervorgeht, erinnert an den Rütlischwur in Schillers Tell: "Ganz unmerklich erfloß aus jenen wenigen Worten ein Staatsgrundgesetz für dieses neue Gemeinwesen, das in Bildung begriffen war." (S. 257). Im Eid, den die Widerständler leisten, ist vom "letzten Blutstropfen" und "blindem Gehorsam" (S. 348) die Rede.
Werfel beglückt mit ungezählten Sentenzen. Sie kommen ontologisch-generalisierend ("immer, überall, nie"), aber auch weltklug daher. Als Beispiele mögen diese gelten:
- "Denn alle Grausamkeit, die über bäurische Menschen hereinbrechen kann, ist in dem Worte 'Veränderung' enthalten." (S. 260)
- "Wer gegen sich selbst hart ist, wird es auch meist gegen andre sein ..." (S. 291)
- "Der Bagradiersohn hatte jene Altersgrenze schon erreicht, jenseits derer der werdende Mann sich nicht nur gegen seine Säfte behaupten muss, sondern auch gegen ein Riesentrugbild der Welt, das ihn in jeder Minute die Nichtigkeit seines kaum erwachten Selbst würgend fühlen läßt." (S. 416)
- Hier wie überall in der Welt war der herrschende Nationalismus am Werke, um ideenerfüllte, ja religiöse Reichsgebilde in ihre armseligen biologischen Bestandteile aufzulösen." (S. 505)
- "Es gibt eine Stufe des vollkommenen, des asketischen Reichtums, der sich nicht mehr mitzuteilen vermag, weil alles Erhabene asozial ist." (S. 514)
- "Er war wie jeder Redende gegenüber dem Schweigenden im Nachteil, so wie die Bewegung der Ruhe, das Leben dem Tode gegenüber im Nachteil, oder besser in einer buhlenden Lage sich befinden." (S. 541)
- "Der Mißerfolg ist auch der strengste Vater der Wahrheit." (S. 584)
- "Das Grundverhältnis von Menschen untereinander verändert sich fast nie. Diese Grundverhältnis zwischen den Bagradians und dem ansässigen Volk drückte sich aber, trotz aller Siege, aller Bewunderung, Dankbarkeit, Verehrung, noch immer zutiefst in dem Gefühle aus: Ihr gehört nicht zu uns." (S. 595)
- "Es liegt unausrottbar im Wesen des Menschen, dass er seineen ewig erbosten Geltungsdrang auf Kosten der Niedriger-, Ärmer-, Mißgeborenen ... erbarmungslos steigert. .. Diese Sucht zu erniedrigen und der rachgierige Rückschlag, den sie auslöst, sind sehr bedeutende Hebel der Weltgeschichte, die von dem zerschlissenen Mantel der politischen Ideale nur kläglich bedeckt werden. (S. 596)
- "Es waren nicht die ganz alten Frauen und auch nicht die ganz jungen, die den Ton der Entrüstung angaben, sondern jene matronenhafte Altersklasse zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig, die im Orient viel älter wirkt, als sie ist, und sich nur mehr an den Freuden der anderen und an übler Nachrede ergötzen darf." (S. 618)
- "Zugewanderte sind immer verdächtig." (S. 681)
- "Ist jemand von einer fixen Idee besessen, so hat er auch die Fähigkeit, diese auf andre, ja selbst auf größere Versammlungen zu übertragen. Darauf beruht die Hauptwirkung politischer Propagandisten, die nichts anderes besitzen als einen beschränkten Phrasenschatz und dämonische Eindringlichkeit der Stimme." (S. 766)
- "Seitdem die Welt steht, ist die Gewalt stets mit stumpfer Unverfrorenheit der Seele verschwistert. (S. 787)
Manche Darstellungen Werfels scheinen Antizipationen von Canettis "Masse und Macht" (1960) zu sein:
- "Auch auf diese stambulsfernen Saptiehs von Antiochia hatte Ittihad eingewirkt, indem er den alten kurzlodernden Fanatismus des Religionshasses in den kalten langbrennenden Fanatismus des Nationalhasses geschickt zu verkehren wusste." (S. 297)
- Das soldatische Wichtigkeitsgefühl, ... die prickelnde Lust zu befehlen ...." (S. 349)
Sexualität erzählt Werfel zurückhaltend-poetisch:
- "Als er Julietten ganz nahe kam, konnte er ihr seine Liebe nicht beweisen, das erstemal in ihrer Ehe." (S. 396)
- "Alle Wonne der Welt sammelte sich in einem einzigen Punkt und dieser Punkt lag mitten in ihm selbst. Er wußte nicht, was mit ihm geschah. Zum erstenmal im Leben ergoß sich sein Geschlecht. Er schlief ein, verschmolz mit der Erde, totenhaft." (S. 423)
- "Im nächsten Augenblick flossen die Abwehrkräfte in sich zusammen, denn Gonzague hielt Juliette an seine Brust gepresst und küßte sie wieder. Die Kopfschmerzen zergingen in unerträgliches Glück. Purpurne Finsternis, und fern in ihr ein letzter Lichtspalt des Entsetzens: Ich bin verloren. ... Sein Mund sog aus ihr das Geheimnis, das sie selbst nicht kannte, beseligend und rachsüchtig." (S. 449f)
Manches liest sich wie die heutzutage vielfach beschworene "Islamisierung des Abendlandes":
- (Durch die Aneignung armenischen Besitzes) "reich gewordene Araber und Türken verbrüderten sich. Niemals hatten sie schönere Häuser gesehen. Es war beinahe zu schade, darin zu wohnen. Aus den Kirchen hatte man im Handumdrehen Moscheen gemacht. Die Mollahs dankten Gott für den neuen herrlichen Besitz, den freilich noch ein Schatten trübe, das freche Leben der unreinen Christenschweine dort oben auf dem Berg. Es sei die Pflicht jedes Gläubigen, sie zu vertilgen. ... Die Männer verließen mit funkelnden Augebn die Moscheen. Auch sie wünschten heiß, der beraubten Vorgänger schnell ledig zu sein, damit ein leises, recht unbehagliches Mißgefühl aus ihren anständigen Bauernseelen verschwinde." (S. 507)
- "'Wir aber wollen eure Reformen, eure Entwicklungen und eure Tätigkeiten nicht. Wir wollen in Gott leben und jene Kräfte fördern, die Allah gehören.'" (S. 664)
Wer über einen Völkermord schreibt, kann uns Lesern logischerweise Grausamkeiten nicht ersparen. Vom Boulevard unterscheiden sich die Erzählungen des Horrors durch die Sprache:
- Im Rückblick wird das Massaker an Kilikian, des "Russen", Familie erzählt: "Einer von ihnen warf sich mit einem feigen Schwung auf den Wiegenkorb, riß die quäkende Kreatur aus den Decken und zerschmetterte den Schädel des Kindchens an der Wand." (S. 288)
- "Was sich in dem kühlen Wort 'Verwundeter' so bildlos summarisch ausnimmt, dort lag es im weiten Umkreis in seiner ganzen schauerlichen Wirklichkeit: Gesichter ohne Nasen und Augen, Kinnladen wie blutiger Brei, von Dumdumgeschossenen zermöserte Leiber, ächzende Menschen mit Bauchschüssen, die vor Durst vergingen" (S. 583)
- "Die Weiber suchten im Kot meines Pferdes nach unverdauten Kaferkörnern." (S. 669)
- "Schon stießen ein paar der schlimmsten Burschen, die seit Monaten kein Weib berührt hatten, von außenher wie Fischadler in den Tumult und packten mit ihren schmutzigen Fängen eine Frai hier, ein Mädchen dort." (S. 901)
Werfel kann auch schön bebildern:
- "Der Himmel war so brennend nackt, daß auch nur die Vorstellung einer Wolkenflocke der Fabelei eines Märchenerzählers geglichen hätte." (S. 330)
- "Haik aber, der Sohn, selbst knochig und groß, hatte sich in die Mutter eingewühlt wie ein Säugling." (S. 683)
- "Das Gebirge schien immer wieder eine Ausrede zu haben, um sich nicht seinem Ende zu ergeben." (S. 693)
- "Obgleich Stephans Lebensdocht tief herabgeschraubt war, ... " (S. 716)
- "Und jetzt sollte er, dem Iskuhis Seele immer heilig gewesen war, sie mit rohen Offenheiten steinigen?" (S. 738)
- Die Heuschreckeschwärme, welche neben dem Fleckfieber als zweite Plage wirken, werden in phantastischer Militärmetapher beschrieben. (S. 787ff)
- "Fast all diese Kinder trugen schwankende Wasserköpfe an dünnen Hälschen und in ihren staunenden Riesenaugen lag ein Wisssen, das Menschenkindern verboten ist." (S. 804)
- "Bei dieser ersten Gelegenheit benahm sich das Feuer gleichsam noch verlegen, als habe es Gewissensbisse zu überwinden." (S. 902) Hat sich Musil (Anfang des "Mann ohne Eigenschaften) davon inspirieren lassen?
- Gabriel Bagradian hatte Schlaf, nein, er hatte Tod. (S. 969)
Über neunhundert Seiten hin ist die Lektüre fesselnd, erschöpfend, häufig kaum zu ertragen, dass und wie sich die Agonie eines Volkes vollzieht. Man ist in Untergangstrance, in Holocaust-Stimmung und kann es lesend kaum fassen, dass, wie in der historischen Wirklichkeit, das Wunder der Rettung tatsächlich geschieht. Das Wunder ist ein französisches Kriegschiff, das wie das historische Vorbild den Namen Guichen trägt. Die Rettung von immerhin 4.500 armenischen Christenseelen, geschunden, schier verhungert, verläuft in langsamer Trance, zieht sich über 70 Buchseiten hin. Es ist kein Happy End. Die Assoziationen schweifen von der Gustloff zur Aquarius und wieder zurück an den syrischen Strand, wo die zerlumpten Geretteten mit der französischen Hochkultur der Offiziere einen heftigen Kontrast bilden. Schwer bedrückt und erschöpft durch die Erzählung der Not, von Blut, Schweiß und Kot ist man als Leser noch nicht bereit, die Rettung der armenischen Christen, eben dieser (verbürgten) viereinhalbtausend, feiernd zu genießen. In dieser Erschöpfung nimmt man den selbst gewählten Tod des Heros Bagradian durch eine "Türkenkugel" (S. 976) fast schon wie eine Erlösung auf.
© 2002-2024 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 02.10.2018