Michael Seeger Rezensionen Forum

Werfel

Franz Werfel (1933)

Die vierzig Tage des Musa Dagh


S. Fischer. Ffm 162007 (FT 9458)

ISBN: 978-3-596-29458-9

990 S. 14,95 EUR

gelesen Juni-September 2018

Cover

Ein Denkmal für das armenische Volk

In diesen Tagen des umstrittenen Staatsbesuchs Recep Tayyip Erdogans in Deutschland wird wieder einmal deutlich, wie einheitlich wir Deutschen incl. des Feuilletons die Türkei und vor allem deren derzeitige Regierung sehen. Zugleich aber offenbart sich auch ein allgemeines Unwissen um die Türkei und vor allem um deren Geschichte sowie der Geschichte des Osmanischen Reiches aus dem die "Jung"Türkei hervorgegangen ist. Ein wenig Licht ins Dunkel brachte die von Cem Özdemir initiierte Resolution des Deutschen Bundestages zum Völkermord an den Armeniern. Eher misslungen ist Fatih Akins Film "The Cut" (2014) zum gleichen Thema: Der Streifen ist im Plot und der Darstellung kitschig-sensationslüstern, die Kritik nennt das Werk durchweg "hölzern".

Unter den wenigen Versuchen, die Leidensgeschichte des armenischen Volkes darzustellen, ragt Franz Werfels opulenter Roman heraus. Völlig zu Recht wurde dem Österreicher posthum 2006 die armenische Ehrenbürgerschaft verliehen.

Denkmal

Das Werfel-Denkmal im Wiener Schillerpark trägt die Aufschrift:

„In Dankbarkeit und Hochachtung. Das armenische Volk.“

Also eine Geschichserzählung, welche zwanghaft in einen literarischen Plot gedrückt, bzw. welche einen solchen Plot aufgesetzt bekam, wie ich das bei manchem historisch-politischem Roman kritisieren musste (Seghers, Hosseini, Houellebecq)? Nein! Werfels der Realität auf authentische Weise nachgestaltete Romanhandlung, seine Figuren, vor allem seine Sprachmächtigkeit verleihen dem Werk neben dem oft gerühmten dokumentarischen Wert eben auch ein eigenständiges literarisches Gewicht. Auf die Genauigkeit kann man sich als Geschichtsinteressierter durchaus verlassen. Wenn man nach dem protestantischen Theologen Johannes Lepsius, einem Fürsprecher des armenischen Volkes, wenn man nach den Kriegshandlungen am Mosesberg, wenn man nach den osmanischen Kriegsminister Enver Pascha oder nach dem rettenden französischen Kriegsschiff Guichen forscht, findet man, dass Werfel die Historie authentisch dargestellt hat, man das Buch also sehr wohl als historische Quelle nutzen mag:

"Die Türkei aber besaß keine oder beinahe keine Rüstungsindustrie. Sie war ganz von der Gnade Krupps in Essen und Skodas in Pilsen abhängig." (S. 400)

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Mich interessiert in dieser Rezenionsreihe aber mehr die literarische Gestaltung. Und da bekommt Werfel viele Punkte! Ohne die metaphorische Sprachkraft eines umfassend gebildeten - und daher auch bildenden - Autors hätte man wohl nicht die Ausdauer gehabt, sich das fast 1.000-seitige Werk anzueignen. Bei aller Parteinahme für den Heroismus der 5.000 Armenier in ihrem Widerstand gegen die "Verschickung" werden diese Helden nicht zu Heiligen hochstilisiert. Sie sind Menschen aus Fleisch und Blut, differenziert dargestellt: eindimensionale ideologische Charaktere, Menschen voller Selbstzweifel und Wandlungen, Intriganten, Hedonisten, Ehebrecher, Verräter, Gutmenschen, kleingeistige Neider, überlegene Patriarchen (Ter Haigasun) Narzissten, Egoisten, Lügner, treue Freunde, weltfremde Philister wie Krikor ("Kriege, die nicht schon zu Büchern geworden waren, mißachtete er." (S. 71). Werfel kommt auktorial allwissend daher, verzichtet infolgedessen auch nicht auf zahllose Bewertungen und Sentenzen. Der allwissende Erzähler wechselt mühelos die Perspektive, schildert Parallelhandlungen, adelt auch widerstreitende Figuren mit erlebter Rede und innerem Monolog und verschont niemanden von seiner ethisch begründeten Wertung. Diese ist allerdings aufgrund der Parteinahme für das geschundene armenische Volk und aufgrund der christlich-eurozentrischen Geisteshaltung, wie sie der Entstehungszeit des Romans eignet, durchaus auch - aus heutiger Sicht - rassistisch zu nennen. Da werden osmanische Soldaten und "mohamedanische Taugenichtse" dämonisiert und animalisiert.

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In der Begegnung des Armenierhelfers Lepsius mit Enver Pascha lässt Werfel den Theologen im inneren Monolog sinnieren: "Wäre dieser Mensch dort nur böse, wünscht er sich, wäre er der Satan. Aber er ist nicht böse und nicht der Satan, er ist kindhaft-sympathisch, dieser große unerbittliche Massenmörder" (S. 169).

Geistesaristorkratisch wird die Beziehung Führer (Gabriel Bagradian) - Volk geschildert: "Unter ihnen (den Armeniern) fand sich kein Mann vom Wuchse Awetis Bagradians, des Alten. Sie schlossen die Fensterläden ihrer Villen und verkrochen sich in die finstersten Winkel. Zwei oder drei waren, um Leben und Vermögen zu retten, zum Islam übergetreten und hatten sich dem stumpfen Beschneidungsmesser des Mollah dargeboten" ( S. 247).

Die Versammlung, aus welcher schließlich der Widerstand und die Organisation des Kampfes gegen den geplanten Völkermord hervorgeht, erinnert an den Rütlischwur in Schillers Tell: "Ganz unmerklich erfloß aus jenen wenigen Worten ein Staatsgrundgesetz für dieses neue Gemeinwesen, das in Bildung begriffen war." (S. 257). Im Eid, den die Widerständler leisten, ist vom "letzten Blutstropfen" und "blindem Gehorsam" (S. 348) die Rede.

Werfel beglückt mit ungezählten Sentenzen. Sie kommen ontologisch-generalisierend ("immer, überall, nie"), aber auch weltklug daher. Als Beispiele mögen diese gelten:

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Manche Darstellungen Werfels scheinen Antizipationen von Canettis "Masse und Macht" (1960) zu sein:

Sexualität erzählt Werfel zurückhaltend-poetisch:

Manches liest sich wie die heutzutage vielfach beschworene "Islamisierung des Abendlandes":

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Wer über einen Völkermord schreibt, kann uns Lesern logischerweise Grausamkeiten nicht ersparen. Vom Boulevard unterscheiden sich die Erzählungen des Horrors durch die Sprache:

Werfel kann auch schön bebildern:

Über neunhundert Seiten hin ist die Lektüre fesselnd, erschöpfend, häufig kaum zu ertragen, dass und wie sich die Agonie eines Volkes vollzieht. Man ist in Untergangstrance, in Holocaust-Stimmung und kann es lesend kaum fassen, dass, wie in der historischen Wirklichkeit, das Wunder der Rettung tatsächlich geschieht. Das Wunder ist ein französisches Kriegschiff, das wie das historische Vorbild den Namen Guichen trägt. Die Rettung von immerhin 4.500 armenischen Christenseelen, geschunden, schier verhungert, verläuft in langsamer Trance, zieht sich über 70 Buchseiten hin. Es ist kein Happy End. Die Assoziationen schweifen von der Gustloff zur Aquarius und wieder zurück an den syrischen Strand, wo die zerlumpten Geretteten mit der französischen Hochkultur der Offiziere einen heftigen Kontrast bilden. Schwer bedrückt und erschöpft durch die Erzählung der Not, von Blut, Schweiß und Kot ist man als Leser noch nicht bereit, die Rettung der armenischen Christen, eben dieser (verbürgten) viereinhalbtausend, feiernd zu genießen. In dieser Erschöpfung nimmt man den selbst gewählten Tod des Heros Bagradian durch eine "Türkenkugel" (S. 976) fast schon wie eine Erlösung auf.

Michael Seeger, 02. Oktober 2018

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