Michael Seeger Rezensionen

Walser

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Martin Walser

Ehen in Philippsburg

Roman

Rowohlt. rororo 557 Reinbeck bei Hamburg 1963 (suhrkamp 1957); 227 S.

wieder (nach 1979) gelesen im November 2023

Toxische Männlichkeit

Walser entlarvt die Verlogenheit und Doppelmoral der Wirtschaftswunderzeit.

Es ist eine Hommage an den kürzlich verstorbenen Großautor, dass ich nach 44 Jahren das Werk, mit dem er seinen Durchbruch als Schriftsteller erlebt hatte, wieder lese. Immer wieder erstaunlich, wie wenig Erinnerung mir von der Erstlektüre geblieben ist.

Es ist ein Herren-Buch. Die Emporkömmlinge der Nachkriegsgesellschaft und jene, die traditionell schon immer oben waren, scheinen sich ausschließlich um ihren Aufstieg, ihren Einfluss, ihr Renomee zu kümmern. Die verlogen-zynischen Ansichten der Protagonisten rollt Walser mit den Stilmitteln des Inneren Monologs und der erlebten Rede auf. Stilistisch besonders gelungen finde ich die Passagen, in denen die erlebte Rede als indirekte Rede daherkommt. Empathie ist diesen Figuren fremd. Auch die zwei Selbstmorde und ein Unfalltod berühren die Figuren nicht. Der (mitverschuldete) Tod eines besoffenen Motorradfahrers beschäftigt den Anwalt Dr. Alwin (35) nur infofern, als ein Skandal seine Karriere als künftiger Politiker der CSLPD, der "christlich-sozialliberalen Partei Deutschlands" (S. 116) gefährden könnte.
Zuhören will in dieser noblen Gesellschaft niemand. Es geht ums Zutexten:

"Die Presseleute hörten offensichtlich nicht gerne zu. Sie waren allem Anschein nach nicht hergekommen, um etwas zu erfahren, sondern um ihren bis an den Rand vollen Redekropf auszuleeren." (S. 78)

Die Frauen sind reine Staffage; eine Ehe gehört eben dazu. Aber schon bei der Verlobung denken die Männer daran, dass sie lieber jene hätten. Alle führen ein Doppeleben. So auch Hans Beumann, ein 24-jähriger Journalist, der nicht nur seines Alters und Vornamens wegen an Th. Manns Hans Castorp erinnert:

"Ich bin mit Anne verlobt, ich werde sie heiraten, ich muß sie heiraten, ja, ja , ja, aber Marga auch! ... Und betete, wie der heilige Augustinus gebetet hatte: << Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, nur gib sie nicht schon jetzt!<<." (S. 222)

Die Frauen, obwohl begehrt, scheinen nicht besonders adrett zu sein, vor allem die fetten, deren körperliche Makel in der Figurenrede schonungslos ausgebreitet werden:

"Alice trug wohl das kühnste Kleid dieser Party. Es spannte sich so eng um ihre pralle Figur, dass Hans befürchtete, es müsse jeden Augenblick platzen. Vielleicht erwarteten das die anderen Herrn und musterten sie deshalb so wohlgefällig. Ihre Brüste waren fast bis zur Hälfte sichtbar, und wäre der messerscharfe schwarze Schattenstrich, der bezeichnete, wo sie gegeneinander gedrängt wurden, nicht gewesen, so hätte man in diesem Fleischberg jede Orientierung verloren." (S. 54)

Eindrücklich erzählt ist die grausame Abtreibungsgeschichte Annes. Drei der potentiellen Ärzte bzw. Kurpfuscher wollen vor dem Eingriff zunächst den Koitus mit der verzweifelten Frau. Dann schlägt einer für tausend Mark schließlich zu:

"Er trug jetzt eine dunkle Gummischürze. Drei Stunden schnitt und riß er mit Messern und Zangen in ihr herum, förderte blutige Fleischstücke zutage, die er alle in eine große weiße Schüssel warf." (S. 86)

Walser hatte kurz vor der Arbeit an diesem Roman in Tübingen mit einer Dissertation über Kafka promoviert. Kafkas Figuren, etwa Josef K. aus dem Prozess (> "Vor dem Gesetz"), findet m.E. Eingang in den verunsicherten Hans B.:

"Zum ersten Mal war es nicht er, der sich zögernd und vor Erregung unregelmäßig atmend einer böse geschlossenen Tür näherte, dreimal ansetzte, bis er zu klopfen wagte, zum erstenmal tat sich die furchbare Geschlossenheit dieses Häusermeers auf, um ihn einzulassen ....." (S. 38)

Wie der Held eines Entwicklungsromans hat Hans aber rasch gelernt, sich die Finessen der Machtmenschen abgeschaut und angeeignet und ist schließlich - die anfänglich bremsenden moralischen Hindernisse beiseite schiebend - in der toxischen Herrenwelt der Philippsburger Machtmenschen angekommen.

Ein beeindruckendes Zeugnis der Fünfziger Jahre.

Michael Seeger, Buenos Aires, 01. Dezember 2023


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