Michael Seeger | Rezensionen |
>> Angstblüte |
Martin WalserEin springender BrunnenRoman Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998 415 S., 14,00 EUR ISBN 978-3-518-41010-5 gelesen im Mai 2025 |
Ein Lichtblick in Walsers Alterswerk, das sonst gerne in Überheblichkeit und Altersgeilheit sich suhlt! Und endlich lese ich mal wieder einen Roman im raunenden Imperfekt. Die Gegenwartsform ist einzig an einer, sicherlich der stärksten Passage des Romans als "echtes" historisches Präsens eingesetzt: Wie der Ortsgruppenleiter Johanns Familie den Tod Josefs an der Front bekannt geben muss:
"Die Mutter steht, sieht dem Ortsgruppenleiter entgegen, gibt keinen Ton mehr von sich. Johann hat das Gefühl, ihre Augen sehen nichts. Sonst hat sie Augen wie Zwetschgenkerne. Jetzt ist ihr ganzes Gesicht nichts als diese Augenaufgerissenheit und ein Mund, der weder zu ist noch offen. ..." (S. 339)
Neben dem Eindringen des Nationalsozialismus in das Bodenseedorf Wasserburg ist die katholische Kirche (Beichtspiegel!) und Was-die-Leute-Meinen-und-Sagen prägend für das Kind und den heranwachsenden Johann, in dem wir getrost den jungen Walser sehen dürfen.
"Das Leben war etwas Verbotenes." (S. 51)
Solch intensive Sätze der erlebten Rede kommen geschmeidig aus dem Erzählbericht des personalen Erzählers und gehen wieder in diesem auf, ohne dass der gebannte Leser in seinem Lesefluss diese Erzählvarianten wahrnimmt: großartig!
Neben dem Hochdeutschen setzt Walser dem oberschwäbischen Dialekt und seinem Reichtum ein Denkmal: "Rupfensack", "vergantet", "Spülgelte", "Rotzglonker", "gelampt" ...
Johann, eingeschüchtert von diversen Über-Ichs (Kirche, Erwachsenenwelt), muss sich auch an seinen eigenen ehrgeizigen Erwartungen abarbeiten, verlangt von sich und leistet viel, ist aber auch narzisstisch, wenn er sich vor dem Spiegel betrachtet: "Wie ein Königssohn!". "Er konnte sich nicht sattsehen an sich." (S. 322) Seine Emotionen bremst er ab und aus: "Er wollte heulen. Traute sich aber nicht." (S.105).
Neben dem Wunsch nach Anpassung, z.B. an den Freund und Früh-Nazi Adolf, pflegt er seine sensible Seite im liebevollen Kontakt mit dem Vater, der ihm einen imaginären Wörterbaum erfindet, dem Vater, dem er immer wieder vorliest, immer wieder das Nachtlied aus dem Zarathustra: "Meine Seele ist ein springender Brunnen." (S. 164) 1
Sowohl in der Fabel des Romans als auch in der erzählerischen Gestaltung sehe ich den Höhepunkt im II. Buch: "Das Wunder von Wasserburg". Da bin ich ganz in der analogen Kindheitserinnerung meiner ersten Liebe: Dieses unbedingte Wollen und nicht Dürfen, nicht Können, wenn Johann, vom Zirkusmädchen Anita (hat schwarze Haare in der Achsel!) angezogen, begeistert, zu ihr hingerissen die Annäherung plant und versucht ... und sogar einen kleinen Erfolg hat: Um die Erstkommunion herum gelingt es ihm, sie zu einem "Ausflug" an seinen Kirschbaum zu "verführen". Dort klebt er ihr zwei Abziehbilder an die Innenseiten der Oberschenkel: einen Wasser speienden Wal und den feuerspukenden Popocatepetel.
Was Pubertät ist und wie sie den Siebzehnjährigen plagt, erfahren wir später:
"Wahrscheinlich dachte kein Mensch so ununterbrochen an das, woran Johann so ununterbrochen dachte. Unkeuschheit hieß es im Beichtstuhl und verdarb ihm jedesmal die vollkommene Reue, also die Absolution, also die Kommunion. (S. 320)
Trotz innerer Distanz wirkt auch bei Johann die Nazi-Propaganda: "Hoffentlich kommt mein Stellungsbefehl bald". (S. 331) "Er wollte an die Front." (S. 348) Bevor der Krieg für ihn so richtig losgeht, ist er auch schon wieder beendet. Die Amerikaner sind da. Jetzt heißt es, irgendwie ohne Gefangenschaft nach Hause kommen. Geradezu lyrisch wird die Heimat erlebt:
"Ab Füssen, sagte Johann, kenn ich mich aus. Das stimmte zwar nicht, aber er hoffte, er werde von Füssen an, immer oben bleibend nach Immenstadt finden und, weiterhin oben bleibend, nach Oberstaufen und dann, den See sehend, hinaus ins bloß noch Hügelige strebend, aber den Wald behaltend ... hinab über neununddreißig liebliche Weiler ins ganz von Kirschen, Birnen und Äpfeln umblühte und eingeblühte Wasserburg. (S. 362)
Er kommt doch noch kurz in amerikanische Gefangenschaft, wird dort Bibliothekar, und der Leser sieht darin die schon länger angedeutete Initiation als Schriftsteller. Schon als Kind hatte er immer wieder poetische Anwandlungen:
"Oh, daß ich einsam ward
So früh am Tage schon." (S. 263)
Ein freundlicher amerikanischer Leutnant bringt ihn nach Lindau in die französische Zone.
"Mit einer Bibliothek auf dem Rücken kam Johann heim." (S. 362)
Mit Lena erfährt er seine Initiation als Mann (S. 392ff). Wichtiger wird ihm aber die zu erringende Autonomie als Schriftsteller:
"Johann wollte nie mehr unterworfen sein, weder einer Macht noch einer Angst. Niemand sollte einen Anspruch an ihn haben. Am liebsten wäre er so frei gewesen, wie noch nie jemand gewesen war." (S. 402)
"Er mußte sich das Zielen abgewöhnen. Sich den Sätzen anvertrauen. Der Sprache. (...) Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen." (S. 404f)
Und so profitieren wir Leser von dutzenden Büchern, die der Großschriftsteller Walser verfasst hat. Das vorliegende gehört zu den gelungenen.
(1) Wie sich die Partizipien Präsens in Walsers Titeln häufen: Ein fliehendes Pferd, Ein springender Brnnen, Ein liebender Mann
Michael Seeger, 21. Mai 2025
Eine ausführliche Würdigung bietet Hajo Steinert: https://www.deutschlandfunk.de/ein-springender-brunnen-100.html
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