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Michael Seeger (Geschichte) |
Bilder |
Das Dorf |
Worterklärungen |
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Das
Dorf B. galt für die hochmütige,
schlauste und kühnste Gemeinde des ganzen Fürstentums. Seine Lage
inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeit mochte schon früh den
angeborenen Starrsinn der Gemüter nähren; die Nähe eines Flusses,
der in die See mündete und bedeckte Fahrzeuge trug, groß genug, um
Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zu führen, trug sehr dazu bei,
die natürliche Kühnheit der Holzfrevler zu ermutigen, und der Umstand, dass alles umher von Förstern
wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig vorkommenden
Scharmützeln der Vorteil meist auf Seiten der Bauern blieb.
Dreißig,
vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen Mondnächten mit ungefähr
doppelt soviel Mannschaft jedes Alters, vom halbwüchsigen Knaben bis zum
siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener Leitbock den Zug mit
gleich stolzem Bewusstsein anführte, als er seinen Sitz in der
Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos dem
allmählichen Verhallen des Knarrens und Stoßens der Räder in den Hohlwegen
und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuss,
ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut
auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrauen kehrte
der Zug ebenso schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz, hier und
dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und
nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Missgeschick eines
oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden,
zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem
Berufe nachzukommen." |
Dorf B.: Gemeint
ist der heute noch existierende Ort Bellersen bei Brakel im Osten von
Nordrhein-Westfalen, etwa zwischen der Stadt Paderborn und der
Weser. Fürstentum:
Das Gebiet gehörte damals zum Bistum
Paderborn /Kurfürstentum
Köln. Wald: Hier die bewaldeten Teile des Eggegebirges, das sich im Südosten an den Teutoburger Wald anschließt. Fluss: Die ca. 15 km entfernte Weser,
über die das Holz per Frachtkahn zur Nordsee (hier: "die See")
transportiert wurde, wo es offenbar vorwiegend als Schiffbauholz
Verwendung fand. bedeckte Fahrzeuge: Geschlossene Frachtkähne, deren Ladung unter Deck verstaut wurde und damit vom Ufer aus nicht entdeckt werden konnte. Förster: Waren damals der natürliche Feind der Dörfler, da sie von der Obrigkeit dazu bestellt waren, den Holzdiebstählen Einhalt zu gebieten. Scharmützel: Kleines Gefecht oder
Kampf; hier zwischen Holzfrevlern und Förstern. |
Bilder: |
Die Dorfbewohner |
Beschreibung: |
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„...im Dorfe B., das, so schlecht gebaut
und rauchig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die
überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht eines
bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen, dem es
angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken
und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte
und eine Reise von dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses
seiner Gegend machte - kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in
Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität
und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen. Unter
höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der
Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder
vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet,
ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch
Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die
niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer, in den
meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar
und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich schien, und nur dem
Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten, staubigen Urkunden
nachzuschlagen. Es ist schwer, jene Zeit
unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder
hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte,
zuviel teure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene sie nicht
begreift. Soviel darf man indessen behaupten, dass die Form schwächer, der
Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer
nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie
ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentötender wirkt, als gegen das
innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch zu nehmen.
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Die Handlung spielt in einer ländlich abgeschiedenen Gegend Ostwestfalens. Neben dem geltendem Recht hat sich seit langem ein Gewohnheitsrecht entwickelt, das ständige Übergriffe heraufbeschwört und Unfrieden stiftet, zumal der ansässige Menschenschlag höchst aktiv und wagemutig ist. Jagd- und Holzfrevel sind an der Tagesordnung. Das geschlossene Auftreten der Dorfgesellschaft übt Druck auf den aus dem Rahmen fallenden aus und fördert Außenseitertum. Geborgen kann sich in diesem sozialen Umfeld nur derjenige fühlen, der sich der Gemeinschaft anschließt und somit der Mehrheit anpasst. Gleichzeitig verliert er seine Individualität und muss auf seine persönliche Entwicklung weitgehendst verzichten. Durch die daraus resultierende Enge und Beschränktheit kann eine Öffnung nach außen, ein Anschluss an moderne Entwicklung nicht stattfinden. Die ganze Gesellschaft wirkt intolerant und desorganisiert; jedes Gesetz wird spätestens dann außer Kraft gesetzt, wenn es um den eigenen Vorteil geht. So erscheinen die Vertreter der Ordnung machtlos, die Bewohner hoffnungslos und die gesamte Lage aussichtslos. Gefangen in ihrem selbst geschaffenen Chaos leben die Menschen umgeben von einer landschaftlich wunderschönen Gegend, welche ohne mit der Wimper zu zucken ausgebeutet wird. So destruktiv sich die Dorfbewohner gegen den Wald verhalten, so zerstörerisch verhalten sie sich gegen alles aus der Norm Fallende.
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Weiterverführende Links:
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© 2002-2015 Gerrit Gertzmann, Jonas Haaf, Faust-Gymnasium 79219 Staufen, Letzte Aktualisierung 16.09. 2015 |