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Dörte Hansen:

Zur See

Roman

(Penguin) München 2022

255 S. 24,00 EUR

ISBN: 978-3-328-60222-4

gelesen Februar 2023

Autorin

Abschied, Abgesang, Untergang

Norddeutsche Zivilisationskritik und Familientragik in bekannter Manier


Wenn eine Autorin so auf der Erfolgswelle schwimmt, ist es fast zwangsläufig, dass sie nach dem fulminanten Debütroman ALTES LAND und der MITTAGSSTUNDE einen weiteren Roman vorlegt. Fast ebenso zwangsläufig ist es, dass sie das Niveau der vorausgegangenen Werke nicht erreicht. Und das, obwohl - oder vielleicht besser weil - der Roman nach dem gleichen Muster gebaut ist. Diesmal ist der historische Rahmen um eine stoisch-tragische Familiengeschichte der Sanders (Mutter Hanne, Ehemann/Vater Jens mit den erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske, Henrik) fast ganz verschwunden und durch einen raunenden Ozean-Mythos ersetzt. Auf das von Hansen so wunderbar beherrschte Plattdeutsch muss der Leser dieses Mal verzichten. Ersatz findet er in den - nur abstrakt angedeuteten - Dokumenten der Inselsprachen, welche der Festlandsprofessor Flemming Jespersen erforscht.

Die Lakonie der früheren Romane wird noch dadurch verstärkt, dass die Inselbewohner kaum miteinander reden. Die handelnde Sprachlosigkeit ist ebenso verstörend wie auch Ausdruck tiefer Menchlichkeit, wenn etwa der auf die Vogelinsel weggezogenen Ehemann Jens nach zwanzig Jahren in sein Haus wiederkehrt und das von seiner Ehefrau Hanne wortlos akzeptiert wird.

textauszug S. 18

Wie der nebenstehende Textauszug zeigt, ist der Roman - leider! - weitgehend im Präsens verfasst. Das von uns so geliebte raunende Imperfekt taucht in den Rückblicken auf, den besseren Passagen des Buches. In den letzten beiden Kapiteln wechselt Hansen allerdings mehr oder minder willkürlich im gegenwärtigen Erzählbericht zwischen Präsens und Präteritum.

Da in der überwiegend heterodiegetischen Erzählweise ein eigentlicher Erzähler fehlt und damit eine über dem Geschehen thronende Instanz, muss leider das ungeliebte "man"-Subjekt diese Lücke füllen.

Die "man"-Passagen wirken auch eher wie eine photographische Schilderung der Inselwelt, wie der Entwurf eines Panoramas - aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetzt, welche den atmophärischen Rahmen für die eigentlche Handlung setzen. Die zahlreichen Abschnitte sind der typographische Ausdruck dieser Mosaiksteinchen. top

Aufgrund dieser Erzählweise will kein rechter Lesefluss aufkommen. Wie in den Vorgängerromanen kann man allerdings die einzelnen Kapitel quasi als eigenständige Prosaskizzen zur Einschlaflektüre wählen.

Die Prosa changiert freilich zur Lyrik hinüber. Geschätzt 70 % des Textes sind subkutan jambisch skandiert und erzeugen einen eindringlich-einförmigen Rhythmus, dem man sich am liebsten laut lesend ergibt:

"Jahrhúnderté verrútschen mánchmal aúf den Ìnseln. Man kánn das Zéitgefúehl verliéren, wenn mán vor réetgedéckten Häúsern stéht, die nóch die Gróenlandfáhrer-Ínitíálen ín den Giébeln trágen." (S. 132)

Die unprätentiöse Sprache und die wenig aufregende Erzählweise eignet dem Plot, den spröden Charakteren, der Nordseeinselwelt: in sich ruhend, authentisch, stoisch, wortkarg, lakonisch.


Wenn da nicht, ja wenn da nicht der Einbruch der Moderne, der zivilisatorischen Touristenmassen in die einst geschlossene Inselwelt wäre. Wir kennen das aus den beiden anderen Romanen. Und wieder zeigt Hansen diesen massiven Wandel, ohne die frühere Inselwelt zu einem "Früher war alles besser" zu verklären. Denn gestorben wird jetzt wie früher. Früher vielleicht noch härter, wenn ein Kapitän, der zur See fuhr, niemals wieder kam.

"Heute" aber kündigt sich der Tod auf eine Weise an, die massiver kaum denkbar ist. Ein dreißig Tonnen schwerer Pottwal strandet, setzt die ganze Insel samt Katastrophentouristen in Bewegung und überzieht die Nordseeluft mit einem pestialischen Gestank, der selbst den Leser noch die Nase zuhalten lässt. Ryckmer Sander hat inzwischen als Kapitän auf einem Seebestattungsboot angeheuert, wofür er mindestens drei Stunden Alkoholverzicht zusagen musste. Und dann wird schließlich ganz tragisch gestorben: Den dreißigjährige Henrik, ewiger Barfußgeher und begnadeter Rettungsschwimmer, trifft es selbst. Alle fragen sich

"wie es sein kann, dass Henrik Sander, Inseljunge und exzellenter Schwimmer den Fehler macht, zu weit hinauszuschwimmen, wenn das Wasser abläuft und der Wind ablandig weht." (S. 252)

Die doch so bodenständige Dörte Hansen muss sich offensichtlich auch vor dem "modernen" Zeitgeist und seinen Themen verneigen, zum Glück nicht überbordend: Da haben wir zum einen den sexuellen Kindesmissbrauch: Als kleiner Junge wurde Ryckmer an einen zahlenden Sommerhausgast "ausgeliehen wie ein Fahrrad oder ein Strandkorb“. Was der nette Mann mit dem Jungen beim Nacktbaden gemacht hat, deutet die Autorin nur an. Zum anderen hat Eske, die Heayy-Metal hörende Altenpflegerin, eine unglückliche lesbische Beziehung zu ihrer blauhaarigen Festlands-Tätowier-Künstlerin Freya. top

Von diesem Tribut an die aktuellen Diskurse abgesehen bleibt die Autorin bei ihrer bewährten Zivilisationskritik: Da rollt jeden Montag eine Gastrolaster an die Promenade, der "allen Hafenrestaurants das gleiche vorgekochte Essen liefert. Der Fischertopf im Anker schmeckt wie die Nordseepfanne im Klabautermann, schmeckt wie der Fischerteller der Kajüte, weil alle nur mit Wasserbad und Mikrowelle kochen. (S. 238)

Gut gefällt mir die Nebenhandlung mit Inselpastor Lehmann, der, weil ihm seine Gattin Katrin aufs Festland entläuft an Einsamkeit schier krepiert. Er verliert darob und der permanenten Schmähungen im Gästebuch der Kirche schließlich seinen Glauben, er leidet unter "Pastoritis"! Wie seine verlorene Ehefrau ihn auf "ihre Weise" tröstet, ist symptomatisch für den spröden Realitätssinn der von Hansen so vortrefflich charakterisierten Nordseemenschen:

"Du verstehst dein Handwerk ... und deine Kunden sind zufrieden. Das muss jetzt erst mal reichen."

Es scheint zu klappen, denn er erlebt seine persönliche Auferstehung, "sein Ostern ohne Christus" (S. 226).

Der Autorin Hansen wünschen wir eine längere Pause ... und dann eine Auferstehung im alten Glanz.1


[1] Wer mehr Lob über das Buch lesen will, findet es hier in Überfülle: https://literaturkritik.de/hansen-zur-see,29230.html (Aufruf 20.02.2023)

Michael Seeger, 20.02.2023 top

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