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Dörte Hansen:

ALTES LAND

Roman

(Penguin/Knaus) München 2015, 152019

288 S. 11,00 EUR

ISBN: 978-3-328-10012-6 gelesen September 2020

 

Unterhaltsam, tiefgründig, wahr

Autorin

Die im Plattdeutschen und im Leben kompetente Autorin legt einen erstaunlichen Debütroman vor.


Sind Stil und die Haltung der Autorin sarkastisch, entlarvend, böse, denunzierend oder einfach nur wahr - als gut dokumentiertes Ergebnis ehrlicher und genauer Beobachtung unserer Zeitgenossen, also von uns selbst? Ja, tua res agitur! Der Sarkasmus erinnert stark an Judith Schalanskys "Hals der Giraffe", die boshafte Genauigkeit der Figurenzeichnung wirkt aber - wenn auch hyperbolisch überzeichnet - jederzeit authentisch. Das gelingt Hansen vor allem dadurch, dass sie aus der Er/Sie-Perspektive die Personen vor allem durch die meisterhaft eingesetzte Erlebte Rede sich selbst charakterisieren lässt.

Die Darstellung Vera Eckhoffs und ihrer Fluchtgeschichte aus Ostpreußen gelingt genauso überzeugend wie die ihrer Nichte Anne, welche nach Ehebruch und Trennung aus dem überdrehten politisch korrekten Hamburg-Ottensen ins Alte Land flieht. Die "Wichser" aus der bildungsbürgerlichen Komfortzone bekommen ihr Fett geauso ab wie die giftsprühenden bodenständigen Obstbauern im Dorf. Als Leser ist man jedenfalls voller Sympathie oder Ablehnung bei den kontrastreich gezeichneten Menschen, weil man überall auch ein Stück von sich selbst entdeckt.

Wie umgehen mit einem Bruch im Leben?

"Man meldete sich zu einem Schreib-Workshop in Ligurien an oder buchte ein Wellness-Wochenende auf Sylt, man trommelte eine Weile auf La Gomera, lernte Yoga in Andalusien, verbrachte ein paar angespannte Nächte mit irgendeinem Interims-Lover, ließ sich die Haare schneiden, kaufte sich ein kurzes Kleid. Und wenn das alles nicht half, setzte man sich bei einer Therapeutin in einen knarzenden Korbsessel und versuchte die geknickte Seele für 80 Euro die Stunde wieder aufzurichten.
Oder man haute ab, flüchtete aufs Land, wo die Welt noch heil und gut war, lag besoffen an einer klammen Backsteinwand und tat sich leid." (S. 102)

In unseren modernen Zeiten wollen die Menschen verarscht werden und sind es dann auch:

"Hajo Dührkopp hatte seinen Hof zum Schlarapfelland gemacht, er zog jetzt die Touristen mit dem Trecker hinter sich her, in seinen alten Erntekisten, Rentner in Windjacken, Familien vom Campingplatz oder Schulklassen, denen er erzählte, wie ein Apfel wächst. Sie konnten dann hinterher ein Apfeldiplom bei ihm machen ... und bevor sie wieder in die Busse oder Wohnmobile stiegen, gingen sie noch durch den Hofladen und kauften Obstbrand und Kirschmarmelade und Fliederbeergelee, das machte alles seine Frau. (...)
Gelee gab es bei Rewe, Etikett ab, Stück Karostoff um den Deckel, handgeschriebener Aufkleber drauf, zack, zwei Euro Gewinn pro Glas." (S. 152f)

Schön wird immer wieder die Natur anthropomorphisiert:

"Selbst Veras verkrüppelter Kirschbaum kapierte noch, dass er jetzt Blüten treiben sollte." (S. 168)

top

Vera, eine der beiden Hauptfiguren, ist ein Urgestein, das nicht nur Vertreibung, sondern noch ganz andere Schicksalsschläge verarbeiten und mit hoher Resilienz weiter leben kann.

">Hoch den Kopf, wenn der Hals auch dreckig ist.<
Die preußischen Lektionen ihrer Mutter saßen, Vera hatte sie früh gelernt." (S. 225)

Vielleicht sollte man in diesen bewegten Zeiten ein Stück weit preußischer sein.?

Michael Seeger, 24. September 2020

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