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Guntram Vesper

FROHBURG

Roman. btb Verlag , München 2017, 1.002 S.

15,00 €  ISBN 978-3-442-71507-7

gelesen Januar 2021

autor

Jäger und Sammler oder Messie?

Der "Roman" über die Welthaltigkeit der Provinz ufert aus.

 

Es ist eine Reverenz vor dem kürzlich verstorbenen Autor, den ich als Huchelpreisträger 1985 in Staufen erlebt habe, und ein Dank an Freund K. für die Anregung zur Lektüre, dass ich mir über 1.000 Seiten (!) angetan habe.

In der erzählten Welt der westsächsischen Kleinstadt Frohburg und Umgebung (Erzgebirge) huscht mitten in banaler Alltäglichkeit immer wieder der Weltgeist vorbei: in Balladen des völkischen Schriftstellers Börries v. Münchhausen, in Rückzugsarmeen Napoleons, Anekdoten der Kaiserreichsherrlichkeit, den Umbrüchen nach dem Ersten Weltkrieg, den menschlichen Schicksalen politischer Wirren im Sudentenland, den Widerwärtigkeiten und Grausamkeiten sowohl der Nazis wie der russischen Besatzer nach 1945 und der übereifrigen Junggenossen dieser "Freunde", in Verwerfungen der Wendezeit. Das Personal der Erzählung arbeitet - als Tierarzt wie der Großvater, als Landarzt wie der Vater des Autors - , feiert, isst, betrügt, verleumdet, vergewaltigt (nicht nur Russen, auch mal ein jüdischer Kaufmann! S. 748ff), tratscht (Sachsen halt!), säuft, mordet, fährt Kutsche, Motorrad, Fahrrad und DKW, holt Uranerz aus den Wismutstollen, kramt in Antiquariaten .... und beißt sich, wie der Autor, der erst gar nicht den Versuch unternimmt, seinem ICH einen fiktiven Erzähler unterzuschieben, immer wieder am sächsischen Hochstapler und Fabulierer Karl May fest.

Vielleicht liegt darin eine stilistische Eigenart des Werkes begründet, welche die Lektüre belastet: Die Dingwelt herrscht vor! Ausschweifende und in die Breite gehende, quasi inventarische Beschreibungen der Orte, Gegenden, Topographien, der Städte und Dörfer, ihrer Straßen und Gassen, der Häuser mit ihren Zimmern und Kammern, bis hin zu den Regalen und Schachteln, in denen mal eine rote Krawatte, mal eine Postkartensammlung, mal eine Patrone, mal eine Briefmarkensammlung liegt. Die liebevolle Zuwendung des Autors für diese winzigen Postwertzeichen und anderen Kram bedingen die Vorherrschaft der Nomen und Adjektive bei gleichzeitiger Armut an Verben. Für Vesper selbst ist es "der ausufernde Frohburgroman" (S. 975). Stilistisch kommt das so daher: "Einschub Enteignungen, auf Froburg bezogen." (S. 174). Im Wortsinne kommt Vesper vom Hölzchen aufs Stöckchen, was der an den Attributen interessierte Schriftsteller durch aneinandergereihte (attributive) Relativsätze "gestaltet" oder schlicht gestaltlos durch kommaversetzte Additionen als Bandwurmsätze daherkommen lässt:

"Der alte Siebert in Radebeul starb, auch die Mutter lebte eines Tages nicht mehr, für den jungen Siebert und seine Frau, inzwischen Antiquare in einer christlichen Buchhandlung in Dresden-Löbtau, Kinder gab es nur aus zurückliegenden Beziehungen, war das elterliche Haus viel zu groß, so kam er mit einer ehemaligen Radebeuler Mitschülerin, seiner Klassenkameradin aus dem zwölften Schuljahr ins Gespräch, in zweiter Ehe war sie mit dem in eingeweihten Kreisen geschätzten, beinahe verehrten Dresdner Sänger Lenz verheiratet, sie betreute gelegentlich Schriftsteller aus Polen und aus der CSSR, das Ehepaar hatte ein gemeinsames Dauervisum für das sogenannte Nichtsozialistische Währungsgebiet, vor allem war die Bundesrepublik gemeint, als Ausland, darauf kam es den Ostbehörden in allererster Linie an, die Oper in Hannover machte eine Liederabendreihe mit Lenz unter dem Titel Dort oben brennt noch Licht, in Kassel hatten der Sänger und seine Frau Besprechungen wegen der Teilnahme an einem Konzert im Großen Haus." (S. 60f)

Im ständigen Assoziationsverfahren kommt Vesper von der Beschreibung eines Bahngleises im Erzgebirge unvermittelt nach Banff in Kanada und der dortigen Eisenbahn nach Vancouver, welche der Autor 1982 erlebt hat (S. 427ff). Wie bei Karl May haben wir in Vesper einen sächsischen Schwadronierer, der uns ein Sittengemälde Sachsens, der Sachsen und der sächsischen Sprache in wunderbar transkribierten O-Tönen vorlegt. Das Sächsische geht mit ihm so durch, dass sich da ins hochdeutschen Skript in der Tat eine "Schusselichkeit" /(387) einschleicht. Dem Lektor sei's verziehen - ich hätte seine Arbeit nicht leisten wollen.

Ein Rezensent schrieb, man müsse Vesper lesen, um die Sachsen zu verstehen. Ich kann dies teilweise nachvollziehen anhand meiner Erlebnisse während meiner Deutschlandumrundung per Fahrrad. Und das Buch weckt die unbändige Lust, all die Orte im sächsisch-tschechischen Grenzgebiet erneut und diesmal entschleunigt auf Vespers Spuren zu erkunden. - Das ist inzwischen geschehen mit Visiteen in Schwarzenberg und Johanngeorgenstadt.

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So (bei Cerny Potok = Schwarzwasser) habe ich die Dörfer und Gebäude um den Hauptgebirgskamm des Erzgebirges herum 2014 erlebt, ... und so ähnliche Bilder erzeugt Vesper mit seinen Schilderungen.

 

Mehr als ein Roman ist das Buch (für mich) ein Dokument. Die ungezählten historischen Personen darin zeugen davon: Erich Loest, W. Kempowski, J. R. Becher, Ch. Wolf, Maxi Wander, Erich Mielke, Hager, Bloch, Mayer, W. Ulbricht, Nuschke, Jens Weisflog, Kohl, Gorbatschow, Biedenkopf, Baselitz, Büchner, Brecht ... und immer wieder Karl May. Inzwischen habe ich Dutzende Bücher von DDR-Autoren über die DDR gelesen; mein Eindruck verdichtet sich, dass sich mein Urteil über das untergegangene Land nicht nur dem "späten Sieg der Stasi" (U. Elsner) verdankt, sondern dass das Entsetzen über das Unrechtssystem doch faktische Evidenz hat.

Ein Roman ist das Dokument aber nicht. Das von Vesper, dem Jäger und Sammler, lebenslang angehäufte Material bedürfte der Strukturierung. Die pleonastische Aneinanderreihung tausender Details aus verschiedenen Zeiten um den Ort Frohburg herum ist aber kein literarisches (Ordnungs)Prinzip. Es fehlt ein überzeugendes erzähltechnisches Konstrukt. Über Dutzende von Seiten erzählt der Vater dem Autor von den Mädchen-Morden in Schwarzenberg und was eine Ilse dem Vater von den Parallelmorden in der Silvesternacht davor berichtet hat. Fast 200 Seiten handeln von den nächtlichen Gespächen des Vaters mit Schlingenschön, darin eingebettet eine endlose Berichterstattung von Königs, des Kommunisten, Ehefrau während eines Brathering-Abendbrots. (S. 561 bis 742). - Wie man aus historischem Material einen Roman macht, hat überzeugend Regina Scheer gezeigt.

Es ist eben leider so, dass Vesper sich mehr für die Dinge als für die Menschen interessiert. Es bleibt bei äußerer Handlung. Die pleonastisch überladene Dingwelt lässt keinen Platz für Emotionen. Nie lässt uns der Autor ins Innenleben der Figuren (die eben auch nicht fiktiv sind) eintauchen. Die Personen bekommen keine Kontur. Deswegen berühren die Geschichten auch nicht mehr als die Storys von Karl May. Da kann noch soviel Gewalt, Mord und Totschlag herrschen - es bleiben Räuberpistolen.

Das größte Interesse, ein dringlicher Lesefluss stellt sich erst auf den letzten 150 Seiten ein, wenn Vesper überwiegend ins autobiographische Genre wechselt und sein eigenes Leben erzählt. Warum er dabei die Flucht der Familie 1957 in den Westen ausspart, bleibt ein Rätsel.

Da hat also der Jäger und Sammler mit aller Akribie recherchiert und unzähliges Material angehäuft. Die Strukturierung zum Roman ist Vesper nicht gelungen. Er bleibt ein literarischer Messie.

Michael Seeger, 30.Januar 2021

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