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Regina Scheer:

MACHANDEL

Penguin (Knaus) 2014 (München) 479 S., 11,00 EUR

ISBN: 978-3-328-10024-9

gelesen März 2020

 

Autorin

Authentischer Jahrhundertroman

Wie die Versionen des Märchens puzzelt Regina Scheer in der Geschichte eines Dorfes auch die (DDR-)Geschichte zusammen.

 

Kein Wunder, dass Christoph Hein diesen Roman lobt. Ist er doch z.B. seinem "Trutz" in Thema und Gestaltung artverwandt. Ein Wunder aber, dass die begabte Romancière im hohen Alter von 64 Jahren erst ihr Romandebut vorlegt! Ganz in der Weise, wie wir dies von Anderschs "Sansibar" kennen, fügt die Autorin das Geschehen in und um das (fiktive) Dorf Machandel in der Mecklenburgischen Schweiz vielstimmig aus unterschiedlichen Perspektiven zusammen, im Gegensatz zu Andersch aber jeweils in Ich-Form. Ein kleiner Kritik-Punkt: Wem erzählen denn die fünft Ich-Erzähler ihre Geschichten? Haben wir hier also ein erzähltechnisches Desiderat, so fügt sich das Gesamtgeschehen durch den gemeinsamen Ort, eben Machandel, zusammen ... und eine Schicht tiefer und sehr symbolträchtig durch die von Clara erforschten Versionen des Märchens vom Machandelbaum. Weder die plattdeutschen Versionen noch die Gretchens im Kerker (Faust I) fehlen. Wie die Knochen des Bruders von Marlenchen im Märchen gesammelt werden, so sammelt die Autorin Bruchstücke der einzelnen Leben, um sie in einem Mosaik wieder auferstehen zu lassen. Dem verschollenen Bruder Jan schenkt die Autorin besondere Empathie. In der Hauptfigur Clara darf man durchaus das Alter Ego Regina Scheers entdecken.

Es ist eigentlich ein Roman über die Menschen in einem verschwundenen Staat, der DDR. Die Epochenjahre 1945/46 und 1989/90 bilden den Schwerpunkt des Erzählten, das neben der Fiktion durchgängig Reales enthält. Wir erfahren Details über den Todesmarsch der KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen, die Widerwärtigkeiten des Slánský-Prozesses in der CSSR, die Machenschaften der Stasi, deren Zersetzungstätigkeiten auch vor Kindern nicht Halt machten, von Verschleppungs-und Vertreibungsschicksalen aus Smolensk und Königsberg, von der "Kadette" in Naumburg, vom demokratischen Aufbruch 1987ff in der DDR und vom Widerstand indigener Völker im Amazonas. Namen, Daten, Orte und Ereignisse sind authentisch und gewiss dem Forscherdrang der Historikerin Scheer geschuldet.

Wie Christoph Hein bannt uns Regina Scheer auch emotional durch eine kunstvoll unprätentiöse Sprache mit weitgehendem Verzicht auf Wertungen. Die Tatsachen in der Erzählten Zeit sprechen für sich und bewegen den Leser. An manchen Stellen hätte man sich noch mehr Lakonie, weniger Text gewünscht, um so uns Lesern phantasiebeflügelnde Leerstellen zu bieten, anstatt alles zu erzählen. Dies gelingt immerhin im Bericht über den verschollenen Jan Langner.

Beeindruckend wird die Emotionslosigkeit geschildert, welche in der DDR geherrscht haben muss. Herbert erzählt das über die "Kadette" in Naumburg so:

"Meine Mutter hat mir nie etwas über ihre Gefühle erzählt, kaum etwas über ihr Leben vor meiner Geburt. Wir sprachen über das, was am Tag zu tun war, über das Notwendige. In der Kadette umstellten sie uns mit fertigen Sätzen, aber sie redeten nicht wirklich mit uns, sie wollten auch nicht, dass wir fragten. Als wären die Worte jenseits der abgesteckten Sätze Minen, die man besser in Ruhe ließ, als könnten unerwartete Fragen sie hochgehen lassen. Wenn etwas geschah, was aus der Norm fiel, gab es keine Worte dafür." (S. 146)

Die Figuren des Romans sind stark in ihren Charakteren und Ideologien gefangen, und doch entdeckt der starr antifaschistische, altkommunistische Funktionär Hans Langner am Ende seines Lebens im Fatalismus-Brief Büchners noch dies:

„Wir haben doch gedacht, alles entwickelt sich zum Höheren, am Ende der Entwicklung steht der Kommunismus. (...) Und der schreibt vom Fatalismus der Geschichte. Aber wenn ich zurückblicke, sehe ich, es war, wie Büchner es gesehen hat: >Der Einzelne nur Schaum auf der Welle<“. (S. 385)

Es ist sicherlich übertrieben, wenn Sybil Gräfin Schönfeld behauptet, man müsse über Nachkriegsdeutschland diesen Roman und die "Deutschstunde" gelesen haben. (Umschlagsseite) Um bei Büchner zu bleiben: Wir halten gar nichts von Dantons "Muß"! Wenn man aber Scheers Roman durch das Werk von Christoph Hein ergänzt, macht man gewiss nichts falsch.

Michael Seeger, 09. März 2020

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