Michael Seeger | Rezensionen | Forum |
Alex CapusSusannaRomanHanser München 2022 286 S. 25 € ISBN 978-3-446-27396-2 |
Wieder bewährt sich Capus als Meister von "Dichtung und Wahrheit"
Welche eine Freude, nach dem Flop der "Königskinder" wieder einen echten, einen starken Capus verschlingen zu dürfen. Diesmal führt uns der auktoriale Erzähler vom pietistisch-spießigen Basel über einen Ausflug in den Algerienkrieg Mitte des 19. Jh.s und die 48-er Revolution, die tatsächlich auch in Dortmund stattgefunden hat, ins Auswandererziel New York (genauer Brooklyn) und schließlich zum verehrten greisen Sitting Bull ins deprimierende Reservat in Dakota, um nach einer Begegnung mit dem Häuptling abrupt zu enden.
Wie bekannt und ja bereits früher gewürdigt, ist Capus ein perfekter Recherchierer. Das bringt ihm offensichtlich so viel Material ein, dass er sich als elaborierter Fabulierer gelegentlich nicht bremsen kann. So führt uns eine Nebenhandlung mit Susannas Vater Lukas Faesch und seinem deutschen Freund Karl Valentiny als Soldaten der Fremdenlegion in den Algerienkrieg der Franzosen gegen den Freiheitskämpfer Abd el-Kader. Weil es schön erzählt ist, verzeiht man diesen - für Susannas Geschichte überflüssigen - Pleonasmus dem Autor. Auch dass er sich bei aller allwissenden Super-Auktorialität noch spät als ICH einschaltet:
"Ich wüsste gern, was Susanna Faesch im Frühsommer 1890 veranlasste, plötzlich fortzugehen." (S. 228)
Susanne ist keine Feministin, wie manche Rezensenten raunen, sondern einfach ein von Kindheit an authetisches Wesen, eine starke, selbstbewusste Frau, die auf keinen Fall einen "Lebensweg einschlagen" will, weil es doch nur ein ausgelatschter "Trampelpfad" wäre. "Was Susanne wollte, war dies: jeden Morgen aufwachen, aufstehen und dann tun, wonach ihr der Sinn stand." (S. 127-29).
Schön, wie sie ex negativo charakterisiert wird. Was will sie nicht sein?
Sitting Bull, von Caroline Weldon, 1890, Öl auf Leinwand
"keine ausgezehrte Arbeitssklavin, ... keine auf den Untod gelangweilte Bürgerin, die ihre Tage damit zubrachte, ... mit der Nagelschere die Triebe ihrer Bonsais zu stutzen; kein gehetztes Dienstmädchen und kein mausgesichtiges Bürofräulein, kein typhoides Bettelweib und keine jener Kleiderverkäuferinnen, denen nichts als Heiratsgier ins Gesicht geschrieben stand; keine grell bemalte Bordssteinschwalbe und keine nierenkranke Assistentin irgendeines Herrn Professors ... und schon gar keine pausbäckige deutsche Hausfrau, keine vergessene Jungfer. ... Sie hatte keine Lust, sich zu schminken und zu frisieren und die Nägel zu lackieren, sie mochte weder flirten noch tändeln und auch keine Blumen pflücken, sie wollte keine Gardinen bügeln und sich weder die Beine noch die Achselhöhlen rasieren, kein Silberbesteck polieren und nicht Tennis spielen. (S. 127f) usw.
Wenn sie - inzwischen Ehefrau des wohlriechenden Arztes Claude - wirklich was will, ist das sicherlich der Männerphantasie des Autors geschuldet:
"Die ganze Stadt war voller Männer. Susanna war neugierig, wie manche von ihnen riechen, nackt aussehen und sich anfühlen mochten. ... Sie wollte wissen, wie es war, mit einem von ihnen zu schlafen." (S. 173)
Seit ihrer Jugend verdient sie sich gutes Geld mit Portraitmalerei nach Photographien. Dereinst fertigt sie auch eine von Sitting Bull an, dem Schwarm des Western-Fans Christie - ihres unehelichen Sohnes. Sie nimmt das Pseudonym CAROLIN FELDON (d.i. Caroline Weldon) an. Obwohl man sich in blanker Fiktion wähnt, erzählt Capus gekonnt die historischen Wahrheit. Nicht nur die Namen sind real, die Recherche geht bis hin zur genauen Bezeichnung von Valentinys, des Stiefvaters, Grabfeld: 13387 auf dem Green-Wood Cemetery. (S. 180)
Wie gesagt endet der Roman abrupt: Ein amerikanischer Offizier stattet sie und Christie mit einem Planwagen und Vorräten in Fülle aus. Damit reist sie von Bismarck zum Indianer-Reservat, wo sie wochenlang campiert, den Indianern mal einen Sack Reis, mal einen Korb Kartoffeln schenkt. Als Gegengabe bringt Sitting Bulls Sohn gebratenes Essen vorbei. Schließlich kommt es zur Begegnung mit dem großen Häuptling, und das vor langer Zeit gefertigte Portrait kann überreicht werden. Es ist gerade die Hochphase der Geistertanz-Bewegung. Susanna will die Euphorie dämpfen, weil sie weiß, dass die Soldaten nur einen Grund zum Angriff suchen. Schließlich reisen Mutter und Sohn zurück. Lakonisch heißt es: "Na komm, steig auf. Wir müssen Captain Sully den Wagen zurückbringen." (S. 286)
Die Wirklichkeit ist härter als das Romanende. Die Geistertanz-Bewegung als Vorwand nehmend hat der Indianer-Sergeant Red Tomahawk Sitting Bull ermordet.
Michael Seeger, 01.02. 2023
© 2002-2024 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 01.02.2023