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Ödön von Horváth:Erzählungen und Skizzen(um 1930)Gesammelte Werke Bd. 5 Lyrik, Prosa, Romane I werkausgabe edition suhrkamp, Ffm 1978 gelesen April 2023 |
Eine aufregende Jugendbiographie führte bei Horváth dazu, dass er während seiner Schulzeit "viermal die Unterrichtssprache wechselte" mit dem Ergebnis, "daß ich keine Sprache ganz beherrschte." (S. 8). Ja das merkt man gelegentlich an grammatischen und orthographischen Patzern ("ich versprich"). Oder es ist eben ein Kunstgriff, dass die Alltagssprache überall, nicht nur in de Figurenrede, durchbricht. Wir haben da Büchner (Woyzeck) und Fassbinder vor Augen und sehen den österreichisch-ungarischen Autor zwischen diesen Polen und in der Tradition des Volksstücks.
Stück, das gehört ja zum Drama. Horváth aber begann als Erzähler. Ob er es selbst geahnt hat, dass seine große Begabung eigentlich als Dramatiker in ihm schlummerte? Das Dramatische freilich schießt in seiner Prosa aus jeder Pore ins Freie. Da wird überwiegend szenisch erzählt, das spielt die wörtliche Rede eine übergeordnete Rolle.
Thematisch finden wir schon in der frühen Prosa die kaputte Welt und die derben Charaktere, wie sie heute in den Inszenierungen seiner vielgespielten Dramen auf den deutschen Bühnen meist sehr drastisch dargestellt werden. Es ist die desillusionierte Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, wo man als heutiger Leser fast wie bei Fallada, Keun, Brecht, Kästner, Klaus Mann, Döblin glauben möchte, die Welt sei ein einziges Bordell!
Horváth erklärt in einer "Autobiographischen Notiz" seine Haltung so:
"Wir waren verroht, fühlten weder Mitleid noch Ehrfurcht. Wir hatten weder Sinn für Museen noch die Unsterblichkeit der Seele." (S. 8)
Immer wieder taucht das Fräulein Pollinger aus der Schellingstraße auf, als sei sie eine wirkliche Gestalt. Die meisten "Erzählungen" sind freilich, wie vom Autor selbst so bezeichnet, eher "Skizzen". Den Band schließt der "erbauliche Roman" "Der ewige Spießer" ab - ganz boulevardeske Unterhaltung. Interessant ist, dass Horváth 1937 nach Dutzenden von Dramen mit dem bewegenden Roman "Jugend ohne Gott" nochmal zur Prosa zurückkehrt. In diesem antifaschistischen Werk hat er dann aber tatsächlich noch zu "Mitleid und Ehrfurcht" gefunden.
Wer weiß, was aus seiner Prosa geworden wäre, hätte ihn nicht in Paris ein Baum erschlagen?
Michael Seeger, 26.04.2023
© 2002-2023 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 26.04.2023