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>> Die Enkelin |
Berhard SchlinkLiebesfluchtenGeschichtenDiogenes Zürich 2000 308 S., 13 EUR; gelesen März 2023 |
Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort aus E. Kästner: Sachliche Romanze |
Die Lektüre macht nicht froh! Wie sollte sie auch, wenn der Ehemann während einer Wiederfindungsreise in Kalifornien einfach aus dem Auto steigt und der einsamen Küste zustrebt? Wenn ein pensionierter hoher Beamter nach dem Tod seiner Frau ihr Doppelleben mit dem "Anderen" entdeckt, diesen bloßstellen will und am Ende selbst bloß dasteht? Wenn ein DDR-Ehepaar sich gegenseitig verrät: Er sie mit seiner IM-Tätigkeit, sie ihn mit einem Seitensprung zum/mit dem gemeinsamen Westfreund?
E. Hopper Nightwalk Ausschnitt (1942)
Froh machen die Geschichten nicht, sie machen nachdenklich. Woran denkt der Leser? An die Brüchigkeit der Routinen, an den Selbstbetrug, an die vergebliche Flucht in den Seitensprung, an die Trauer über die abhanden gekommene Liebe.
Der Stil Schlinks ist uns vertraut (aus DER VORLESER, DAS WOCHENENDE, DIE ENKELIN). Die Lakonie ist hier gesteigert zu einem spröden Prosa-Gerippe ohne jedes Geschnörkel. Diese von allem Schönen entkernte Sprache eignet dem Gegenstand existenziellen Verlassenseins ganz besonders. Die gelegentliche emotionale Entkernung ist allerdings nicht nachvollziehbar. So fragt der ANDERE etwa, als er vom Hahnrei darüber unterrichtet wird, dass seine "Affäre" Lisa gestorben und er geleimter Weise nicht mit ihr, sondern mit dem betrogenen Ehemann korrespondiert hat, schlicht: "Woran ist sie gestorben?" (S. 139) - ohne weitere Überraschung oder gar Regung. Diese unrealistische Sachlichkeit in existenzieller Situation mussten wir schon in DIE ENKELIN monieren.
Wenn man sich in Schlink eingelesen hat, kann man darauf vertrauen, dass einem Vertrautes wieder begegnet: Die Protagonisten spielen Schach, trinken Wein, sind Musikkenner, entstammen einer "bevorzugten Gesellschaftsschicht" (R. Musil), sind eher im Ruhestand als noch beruflich tätig, leben gediegen bildungsbürgerlich, sind aber trotzdem unglücklich und einsam. Das Vertraute schafft also kein Vertrauen, sondern eher das Gefühl von Fremdheit.
Michael Seeger, 04. März 2023
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