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Berhard Schlink

Die Enkelin

Diogenes Zürich 2021

ISBN: 3-257-07181-8

368 S., 25 EUR

gelesen Februar 2023

Autor

>> Liebesfluchten

Vom Misslingen eines empathischen (Um)Erziehungsversuchs

Schlinks Figuren sind (wieder) eingebettet in zeitgeschichtliche Horizonte.

Charakterzeichnung im Lichte des historischen Kontextes, Eintauchen in die Welt radikalisierter Extremisten, unwahrscheinliche Begegnungen unterschiedlicher Lebensentwürfe, ein Hoch auf die Rechtstaatlichkeit, Liebe und deren Scheitern; das kennen wir von Schlink u.a. aus seinen Romanen DER VORLESER und DAS WOCHENENDE. Diesmal hat der Autor die autobiographische Spur verdichtet: Wie sein Protagonist Kaspar ist Schlink Pfarrersohn, hat 1964 am Deutschlandtreffen der Jugend in der DDR teilgenommen, hat sich als Fluchthelfer betätigt. Das könnte zu überzeugender Authentizität befähigen. Dass dies nicht durchgängig gelingt, liegt weniger am kuriosen Plot, der eine magische Sogwirkung entfaltet, als an der sprachlichen Gestaltung.

Was passiert? Beim Jugendtreffen in Ost-Berlin verlieben sich der West-Student Kaspar und Birgit, die zu diesem Zeitpunkt aber bereits vom SED-Funktionär Leo schwanger ist, was ihr Geheimnis bleibt. Da Kaspar und Birgit eine Flucht Birgits über Prag planen, kann und will Birgit das Kind nicht haben. Nach einer klandestinen Geburt übergibt sie es der Freundin Paula mit dem Auftrag, es auf eine Kirchenschwelle zu legen. Paula aber übergibt das Baby dem leiblichen Vater, der mit seiner Frau Irma keine Kinden bekommen kann. Die Flucht nach Westberlin gelingt. Birgit wird im Westen aber ncht glücklich. Ihre Mutter-Schuld belastet sie. Neben friedens- und umweltpolitischen Aktivitäten versucht sie sich vergebens als Schriftstellerin, ertränkt ihre gescheiterten Hoffnungen aber im Alkohol. Kaspar liebt sie - asymmetrisch - und findet sie eines Tages tot in der Badewanne. Auf ihrem PC entdeckt er ihr autobiographisches Romankonzept. Diese Aufzeichnungen Birgits pflanzt Schlink als Zitat in den ERSTEN TEIL seines Romans ein - allzu überbordend (S. 53-128). Immerhin erfährt Kaspar aus diesen Aufzeichnungen von der Existenz der Tochter und nimmt Birgits gescheiterten Versuch, diese zu suchen und sich ihr "anzubieten", als seine eigene Verpflichung an.
Tatsächlich findet er zunächst die Adoptiveltern der Svenja genannten Stieftochter: Leo und Irma nahe Görlitz. Die berichten ihm von Svenjas Einweisung in den Jugendwerkhof Torgau - durch den eigenen Vater Leo! -, ihre Drogen- und Alkoholkarriere und vom Lebensgefährten Raul. Über den bekommt Kaspar eine Ossi-Adresse, die ihn schließlich zu Paula führt. Man spürt, das Ganze wird im Stil einer Detektivgeschichte aufgedeckt. Schließlich landet der Rechercheur Kaspar in einem (fiktiven) völkisch-"ausländerfreien" Dorf in der Umgebung von Güstrow bei Björn und Svenja - seiner Stieftochter - und deren Kind Sigrun. top

Und hier setzt meine Kritik an der Situationsgestaltung und Dialogführung durch den Autor Schlink ein. Da steht ein unbekannter Mann in Paulas Praxis oder in Björn-Svenjas-Sigruns Haus ... und die Begegnungen laufen so, als kenne man sich schon ewig und habe sich gestern zuletzt gesehen. Keinerlei Aufregung Svenjas, als sie erfährt, dass sie von ihrer Mutter "abgelegt" worden war oder von Sigrun über den überraschenden Besuch: "">Ist der Mann mein Großvater?< (...) >Willst du zum Fest am Wochende kommen?<" (S. 179)

Genauso unrealistisch und unauthentisch entwickelt sich die Beziehung des empathisch bemühten Stiefgroßvaters Kaspar zur völkischen Nazifamilie Renger. In diesen Passagen fühlt man sich an J. Zehs sympathischen Nazi in "ÜBER MENSCHEN" erinnert. Doch der Voll-Nazi ist schließlich der einzige, der den voll-aggressiven Nazi-Sprech beherrscht. Bei Svenja und der ebenfalls voll infizierten "Enkelin" Sigrun wundert sich der Leser, dass sie mit Kaspar im gleichen gepflegten bildungsbürgerlichen Modus konversieren, den gleichen Ton anschlagen, den er in seinem Bemühen, den zarten Kontakt zu Sigrun keineswegs zu gefährden, anschlägt. Er erfindet ein Testament Birgits zugunsten Sigruns, was der völkischen Familie Renger insgesamt 200.000 EUR verspricht unter der Voraussetzung, dass Sigrun fünf Wochen im Jahr bei Kaspar verbringt. Da der autoritäre Björn geil auf das Geld ist, was er zum Ausbau seiner völkischen Siedlung braucht, "verkauft" er quasi die Tochter an "die anderen". Eine grenzwertig konstruierte Romanidee!

Wenn dann Sigrun zweimal eine und einmal drei Wochen beim "Großvater" in Berlin ist, begegnet sie dem alten gebildeten Mann argumentativ, sprachlich und habituell quasi auf Augenhöhe. Woher soll diese Fertigkeit kommen bei einem Mädchen, welches sich bislang vor allem bei der Jugendleite und in germanischen Sportkämpfen bewährt hat? Sie liest wie ein "Ratte", genießt die Besuche in Kaspars Buchhandlung und goutiert Oper und Konzerte in der Philharmonie. Der erste Klavierklang elektrisiert sie. Und so ist es die Musik, welche sie für eine andere Welt öffnet. Täglich nimmt sie um neun Uhr Klavierstunden bei einem Maestro und setzt später zu Hause die Übungen mit ungebrochenem Fleiß fort. In Berlin wünscht sie sich vom Großvater zum Einschlafen jeweils ein Musikstück, was der aus seiner Sammlung liebevoll auswählt.

Es ist also eher die Musik - als der Besuch im KZ Ravensbrück - , was bei ihr die Umkehr einleitet. Das kann natürlich nicht gut gehen, weil Björn und Svenja sehr wohl registrieren, dass Kaspar die Tochter mit dem Klavierspiel der völkischen Gemeinschaft entziehen will:

""Sigrun gehört Deutschland, und ich werde nicht zulassen, dass du sie Deutschland wegnimmst." (S. 255)

So behutsam Kaspar vorgeht, damit der dünne Faden zu Sigrun und ihrer Familie ja nicht abreißt, kommt es, wie es kommen muss: Mit sechzehn bricht Sigrun mit ihrem Vater und taucht bei den Völkisch-Autonomen in Berlin-Kreuzberg auf und unter, ohne dass der verzweifelte Kaspar davon weiß. Bei einer Straßenschlacht mit der Antifa kommt es zu einem Toten und einem Folgemord an einem "Verräter". Sigrun ist in Gefahr und sucht den Großvater wieder auf. Der will sie dazu bringen, sich zu stellen. Da sie aber keine "Ratte" sein will, endet der Roman nur mit einem halben Happy-End. Sigrun ist erwachsen geworden, haut ab nach Australien, wo sie der Großvater auf einem Konservatorium vermutet:

"Er würde nach Australien fliegen und sie in einem der beiden Konservatorien finden." (S. 367).

Zu kritisieren ist, wie leicht - und damit unrealistisch - sich der Stief-Großvater und seine Stief-Enkelin sprachlich, intellektuell, künstlerisch treffen und austauschen können. Zu loben ist der moralische Impetus des Autors, wie wir ihn aus anderen seiner Werke kennen: die behutsame Art des Protagonisten, ohne Übergriffigkeit, mit Toleranz, Duldsamkeit, Demut, Hingabe, Liebe und dezenter Argumentation eine terroristisch verirrte Jugendliche für den Rechtstaat, das gute Leben und für sich als Enkelin zu gewinnen.

Michael Seeger, 01. März 2023 top

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