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Thomas Mann:Die Bekenntnisse des HochstaplersFelix KrullRomanS. Fischer (FT 90417), Frankfurt 2014, 446 S., 13,00 € ISBN 978-3-596-90417-4 gelesen im Mai/Juni 2025 |
Wenn Thomas Mann ein Werk nach einem halben Jahrhundert wieder aufgreift und versucht es zu vollenden, darf auch ich nach einem halben Säkulum meine Lektüre des Romanfragments wieder aufnehmen und - immerhin - vollenden. Ich tue dies in Reminiszenz an Thomas Manns 150. Geburtstag (06. Juni 1875).
Die Erzählabsicht hat das super-auktoriale Rollen-Ich klar verkündet:
"Ich müßte mir vorwerfen, (...) wenn ich meine Erinnerungen nicht in erster Linie zu meiner eigenen Unterhaltung und erst in zweiter zu der des Publikums niederschriebe." (S. 39)
Nun denn, da wir nichts als "zweite Wahl" sind, müsste ich mir schon einiges vorwerfen, wenn ich es mit dieser Rezension allzu gewissenhaft hielte, anstatt sie meiner eigenen Unterhaltung zu widmen.
Der Ich-Erzähler, dieser glückliche Felix Krull, dessen "Begabung zur Liebeslust ans Wunderbare" grenzt, ist gewiss zu beneiden, wenn er bereits mit Sechzehn der Liebe teilhaftig wird - mit dem "Zimmermädchen Genovefa", für welche es "eine Vereinigung mit der höheren Klasse" bedeutet haben mag. (S. 60f)
An rassistischen und sozialen Stereotypen wird nicht gespart: Wir erleben den Bankrott des Vaters, eines Weinhändlers; der Ruin kommt u.a. deshalb, weil es sich bei seinem "jüdischen Bankier" um einen "Halsabschneider" handelt (S. 67). Der Vater scheidet ob seines Bankrotts eigenhändig aus dem Leben, Felix ist bemüht, dass der Selbstmord verschleiert wird. Dennoch wohnt kaum jemand der - dann doch katholischen - Bestattung bei. Felix aber - wie immer hoch maniriert - erzählt so den Tod des Vaters:
Ich stand, "mit der Hand meine Augen bedeckend, an der erkaltenden Hülle meines Erzeugers und entrichtete ihm reichlich den Zoll der Tränen." (S. 70)
Der Narziss bespiegelt sich immer wieder gerne selbst und spricht im Rückblick als alter Mann "mit Gelassenheit" aus, "daß ich auch nach eigenem Dafürhalten zum gefälligen Jüngling erblüht war. Blond und bräunlich zugleich, mit dem Schmelz meiner blauen Augen, dem bescheidenen Lächeln meines Mundes, dem verschleierten Reiz meiner Stimme, dem seidigen Glanz meines (...) Haares ...." Alles wird gekrönt von einer "Haut von außerordentlich zarter Beschaffenheit." (S. 77f)
In Frankfurt schlägt sich der Halbwaise im Luxus- und auch im Rotlichtmilieu durch und entkommt den Notlagen immer wieder durch Glück, Frechheit und Begabung. Felix ist eben ein Glückskind - aus feinem Holz geschnitzt.
"Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßigganges." (S. 90)
Das Glanzstück des Romans ist für mich das 5. Kapitel des zweiten Buchs: die gelungene Ausmusterung vom Militärdienst. Da wird der musternde Oberstabsarzt in Klimax angeprochen als "Chefarzt, Lazarettkommandant, Generalarzt, Stabsphysikus, Bataillonsmedikus, Kriegsarzt" (S. 116 ff). Aufgrund von "epileptoiden Zuständen" (S. 123) wird Krull schließlich "ausgemustert".
Als Hotelpage in Paris wird der Glückliche zum Koitus mit der Gattin eines Toilettenschüssel-Fabrikanten, Diane, mehrfach in ihre Suite befohlen: "Duze mich derb zu meiner Erbniedrigung! J'adore d'etre humiliée. ... Oh, je t'adore, petit esclave stupide qui me déshonore ..." (S. 204) Von Diane erfährt der Dieb und homo viator, was wir schon wussten: Du bist HERMES! (S. 206)
Man könnte jetzt so - inhaltsangebend und zitierend - den weiteren Verlauf, die weitere Reise nach Lissabon, wo unser Hermes gar dem portugiesischen König begegnet, mit- und nachgestalten. Wir belassen es aber bei zwei "Fußnoten": Mit Prof. Kuckuck und seinem Naturhistorischen Museum kommt die Paläontologie ins Spiel. Unser fleißiger Autor legt hier seine gründlichen Sachstudien literarisch offen: Waren es vordem die Ökonomie (Buddenbrooks), die Radiologie (Zauberberg), die Musik und die Syphilis (Doktor Faustus), das Alte Testament (Joseph-Tetralogie, Das Gesetz), die Mediävistik (Der Erwählte), so ist es diesmal die Wissenschaft vom Ursprung des Seins aus dem Nichts, über welches unser Held mit Prof. Kuckuck philosophisch plaudert. Da geht es um die "Ur-Zeugung".
Ein anderes "Ur" findet sich in der Gestaltung der hochstolzen "Ur-Iberikerin" Maria, Gattin von Prof. Kuckuck. Krulls Traumbild ist ein Doppelbild: Mit beiden, Tochter Zouzou und Mutter Maria, der Liebe zu frönen. Und so endet das Fragment orgiastisch:
"Und hoch, stürmischer als beim iberischen Blutspiel, sah ich unter meinen glühenden Zärtlichkeiten den königlichen Busen wogen." (S. 444)
Nicht alle Zeitgenosse freilich werden Gefallen an diesen 446 Seiten finden. Sie seien auf die kongeniale Verfilmung von Detlev Buck (Drehbuch D. Kehlmann; 2021) mit den glänzend aufgelegten Jannis Niewöhner als Krull und Maria Furtwängler als Diane verwiesen.
Zum Geburtstag gratuliere ich dem Autor Thomas Mann und vermelde vor Kalliope: sein Werk als Leser vollendet!
Michael Seeger, 06. Juni 2025
© 2002-2025 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 03.08.2025