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Autor

 

Saša Stanišić

HERKUNFT

Luchterhand München 2019, 365 S. 22,00 EUR

ISBN 978-3-630-87473-9

gelesen Februar 2020

 

Was für ein Buch? Was für ein Buch!

Stanišić erkundet seine Herkunft und hält uns einen Spiegel vor.

"Bin ich das?

Sohn dieser Eltern, Enkelsohn dieser Großeltern,
Urenkel dieser Urgroßeltern, Kind Jugoslawiens,
geflüchtet vor einem Krieg, zufällig nach Deutschland.
Vater, Schriftsteller, Figur.

Bin ich das alles? (S. 333)

In der Kontroverse zwischen dem Literaturnobelpreisträger Peter Handke und dem Träger des deutschen Buchpreises 2019 schlägt mein Herz eindeutig für Saša Stanišić!

Die innige Liebe zur dementen Großmutter Kristina, welche nach dem Bosnienkrieg in Višegrad zurückgeblieben ist, rahmt das Buch ein. Was für ein Buch! Was für ein Buch? Es ist mehr als eine Autobiographie. Indem der Autor seiner Herkunft in Bosnien nachspürt, von Heidelberg und Hamburg aus auch immer wieder bis 2018 dorthin reist, vergewissert er sich und uns der Wurzeln, der Identität, der Perspektive seiner - unserer - Existenz in einer von Migration und Heimat(verlust) geprägten Welt. In der Selbstauskunft beantwortet Stanišić die Frage so:

"Es ist ein Buch über die Frage, was zu mir gehört, ein Selbstportrait mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits. Ein Buch über meine Heimaten ...." (Klappentext).

Die gut lesbaren kurzen Miniaturen lassen ein mosaikartikes Panorama des (Migranten)Lebens in unserer Zeit bildhaft vor unseren lesend verschlingenden Augen entstehen. Stanišićs Schriftstellerlaufbahn begann zunächst mit Schüler-Gedichten. Sein verehrter Deutschlehrer hatte ihn motiviert, statt vom Serbokroatischen ins Deutsche zu übersetzen, gleich auf Deutsch zu schreiben. Der Romantiker Eichendorff, der ja wie Stanišić in Heidelberg studiert hat, steht Pate für die lyrischen Anfänge. Das Lyrische prägt aber auch immer wieder die sonst lakonisch-prosaische Sprache des Autors:

"... da rief von irgendwo einer den Namen meiner Großmutter, und die Berge meißelten den Hall freundlich und streng in die vom Frühling summende Luft." (S. 26). Ich habe Wasser aus dem Brunnen meines Urgroßvaters getrunken und schreibe darüber auf Deutsch." (S. 35)

Das Sprachregister ist bunt, kommt auch essayistisch daher oder als Manifest:

"Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft." (S. 33)

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Saša ist ein Glückskind, er darf als Kriegsflüchtling in Deutschland bleiben, seine Eltern werden abgeschoben. Das Glück verdankt sich aber auch dem eigenen (tüchtigen) Lebenskonzept.

Man muss das Buch nicht kontinuierlich lesen, die kurzen Kapitel geben auch - durcheinander gewürfelt - Sinn:

"Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens." (S. 37)

Das Buch erzählt von einem Land, das es nicht mehr gibt, von Tito, dem verordneten und gelebten Antifaschismus, vom Vielvölkerstaat Jugoslawien und dem brutal aufbrechenden Nationalismus nach Titos Tod, der in Rassismus und Genozid endete:

"Moslems wurde ... in manchen Städten befohlen, ein weißes Tuch am Ärmel zu tragen." (S. 114) Großvater Muhamed war zu sehr Menschenfreund, um an einen Gott zu glauben.... Großvater Pero war wahrscheinlich der einzig Gläubige in der Familie. Er glaubte an den Sieeg des Sozialismus, und da er dessen Niederlage nicht erlebt hatte, ist er in quasi-religiösen Belangen eigentlich nie enttäuscht worden. (S. 116f)

Es folgen die großartigen Kapitel über den Zufluchtsort Heidelberg, Liebeserklärungen an Hölderlin, Eichendorff, die IGH, Heike, Boris Becker, die Universität, die Gang von der ARAL-Tankstelle in Emmertsgrund:

"In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. (...) Wir teilten uns mit Fremden ein fremdes Leben in der Fremde. (...) Im Emmertsgrund wohnten besonders viele Migranten. Das ist in Deutschland überall gleich. Migranten wohnen meistens irgendwo im Besondersviel, Touristen fahren tendenziell erst zum Brandenburger Tor, andere Touristen gucken, dann nach Neukölln, Kaffee trinken und Araber gucken, und das wird sich nicht so schnell ändern, da können wir interkulturelle Dialoge fürs Theater bis übermorgen schreiben. (...)
Die soziale Einrichtung. die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint im Neonlicht. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch.
Die Altstadt (...) war ein Märchenreich, das wir höchstens mal betraten, wenn uns die Schule dazu zwang. Die Kinder der ARAL machten einen Ausflug ins Völkerkundemuseum." (S. 123-128)

"Die Lehrer (an der IGH) waren ausgestattet mit einem Zusatzertifikat 'Deutsch als Fremdsprache' und wussten in etwa, was sie taten, oder sie wussten es nicht, waren aber motiviert, was quasi dasselbe ist." (S. 153)

Warum gelingt Stanišić die Einwanderung, auch die in die Sprache? Er entscheidet sich ganz bewusst für die "Rebellion durch Anpassung". Sein Widerstreben richtet sich "gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören." (S. 221f)

Mehrfache Besuche in Bosnien, um den Kontakt zur Großmutter zu beleben, nutzt Saša, um seine eigenen Herkunft zu erforschen. Die menschlichen Kontakte wärmen, die Zustände deprimieren. Mit den Augen der Mutter sieht er "das Lustlose, das Kaputte, das Halberledigte, den Nepotismus, den Verfall, das ewig Dämmrige, das ewig Gestrige." (S. 254)

Wie bei manchen von mir rezensierten Büchern verhält es sich auch hier: Die Spannkraft, die Qualität, die Wucht dieses fulminanten Buches lässt nach etwa zwei Dritteln nach. Die charmante Mischung von Gegenwartsbefindlicheit, Essay, Manifest, Gesellschaftskritik, Sprachspiel, Aphorismus fließt aus und endet in reiner Narratio. Der Autor erzählt ausschweifend von einem längeren Besuch mit den Eltern in Bosnien, bei dem es auch darum geht, die orientierungslos-demente Großmutter in ein Pflegeheim in Rogatica zu bringen und sie schließlich in den Tod zu begleiten.

Nach dem EPILOG hängt Stanišić quasi ein zweites Buch an mit dem Titel "DER DRACHENHORT". Jetzt wird auch das Cover des Buchumschlags virulent. Ich habe mehrfach meine Abneigung gegen Drachenfiguren (Ishiguru, Kehlmann) kundgetan. Sie holt mich hier wieder ein. Die "Jagd nach dem Drachen" erzählt extrem retardierend von einem letzten Autoausflug mit der verwirrten Großmutter. Sie ist vom Autor gestaltet als eine Art erratisches Gesellschafts-Brettspiel mit "Ereigniskarten" à la "Lies weiter auf Seite 311". Ich finde, man kann dieses zweite Buch weglassen, und empfehle: "Gehen Sie zurück auf Los!" Fangen Sie also lieber mit der Lektüre nochmal von vorne an und genießen Sie ein großartiges Buch!

Michael Seeger, 13. Februar 2020

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