Michael Seeger Rezensionen Forum

 

Samuel P. Huntington:

Kampf der Kulturen1

Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert

© 1996 by Huntington; 2002 W. Goldmann Verlag München 584 S., 14,00 EUR

ISBN 3-442-15190-2

(wieder) gelesen im Februar 2024

Es kam/kommt noch schlimmer als vom Propheten des Westens prognostiziert.

Nach Russlands Angriffskrieg liest sich das Buch anders.

Beunruhigt durch die nun schon zweijährige imperialistische Aggression Russlands in der Ukraine und nicht getröstet durch Münklers "Aufruhr"-Analyse hat es mich gedrängt, nach mehr als zwei Jahrzehnten den "Papst" der Weltpolitik um die Jahrtausendwende wieder zu lesen.

Dabei ist mir Münkler stets die Kontrastfolie. Der Politikwissenschaftler der Humboldt-Universität bemüht sich ja, als eher abstrakter Theoretiker über der Poltik der Mächte zu stehen. Huntington dagegen ist, nicht nur weil er Päsidentenberater war, sondern auch per Selbstdefinition klar Parteigänger des Westens, ich möchte fast sagen dessen Propagandist.

Die Zukunft des Westens, der Demokratie sieht er allerdings wenig rosig. Nicht Nationalstaaten böten dem Westen, den USA selbstbewusst Paroli, sondern "Kulturen". Die verortet er theoretisch uneinheitlich: überwiegend geographisch ("Afrikanische, Asiatische Kultur"), dann aber wieder eher religiös. Die größte Bedrohung sieht er - wie bekannt - in der "muslimischen Kultur". Was für mich die größte derzeitige Bedrohung ist, der russische revisionistische Imperialismus, heißt bei Huntington die "orthodoxe Kultur". Damit wird klar, was sich seit Erscheinen des Buches in der Welt so umfassend verändert hat, nicht nur in unserer Wahrnehmung, sondern ganz real: Es sind eben nicht Mentalitäten, welche die Weltpolitik in diesem Jahrhundert gestalten, sondern eben doch die waffenstarrenden Nationalstaaten. Nicht Kulturen prallen in unseren Tagen aufeinander, sondern Marschflugkörper, Granaten, Drohnen und Raketen.

Recht behalten hat Huntington damit, dass die (kriegerische) Aggressivität der Muslime evident ist. Auf ihn stützt sich ja auch Sarrazin in "Feindliche Übernahme". Und auch damit hat H. recht:

"Die Frage ist nicht, ob Europa islamisiert wird oder ob die USA hispanisiert werden. Die Frage ist, ob Europa und Amerika zu gespaltenen Gesellschaften mit zwei unterschiedlichen und weithin voneinander isolierten Gemeinschaften aus zwei verschiedenen Zivilisationen werden, was seinerseits von der Anzahl der Einwanderer und davon abhängt, inwieweit diese an die in Europa und Amerika herrschenden westlichen Kulturen assimiliert werden." (S. 326)

Was Huntington vor seinem Tod (2010) noch nicht wissen konnte, ist eine ganz andere Spaltung der westlichen Gesellschaften, nämlich der, wie wir sie seit dem Trumpismus und jüngst verstärkt durch den rechtsgerichteten Populismus in Europa erleben.

So einfach, wie es sich H. vorstellt, ist der Westen leider nicht zu retten: Er müsse "seine wirtschaftlichen Resourcen im Umgang mit anderen Gesellschaften geschickt als Zuckerbrot und Peitsche einsetzen, um seine Einheit zu stärken" ( S. 330). An der geringen Wirkungsamkeit der westlichen Sanktionen gegen Putins Russland sieht man die Ohnmacht dieser Position. Was man an diesem Zitat auch sieht, ist die saloppe, gar "leichte" Sprache, in der sich der lockere amerikanische Plauderer von der wissenschaftlich-abstrakten Angestrengtheit eines an Kant geschulten deutschen Professors unterscheidet.


Michael Seeger, 21. Februar 2024

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