Michael Seeger Rezensionen Forum

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Herfried Münkler:

Welt im Aufruhr

Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert

Rowohlt, Berlin 2023 527 S., 30,00 EUR

ISBN 978-3-7371-8

gelesen Januar 2024

cover

Ist der Krieg doch "der Vater aller Dinge"?

Russlands Angriffskrieg verheißt für die künftige Weltordnung nichts Gutes.

Heraklits Aphorismus vom Krieg als dem "Vater aller Dinge" hatte ich lange skeptisch betrachtet. In einer Ära, in der es der Pazifismus schwer hat, muss man dem Krieg einen neuen, einen prominenten Stellenwert einräumen. Und so sehe ich die "Ordnung der Mächte", mein eigenes Zeitalter, nach der Lektüre von Münklers Analyse nun eher als eine Zeit der Kriege, als eine Vorkriegs- und Nachkriegszeit. Bis zum 24. Februar 2022 glaubte man, der Krieg gelte - zumindest in Europa - als geächtet. Bis Putin uns in "einer anderen Welt aufwachen" ließ (A. Baerbock). Ganz unter diesem Eindruck verfasst der Berliner Politologe - offensichtlich auch unter Zeitdruck - seine Analyse der Weltlage unter dem reißerischen Titel "Welt im Aufruhr"1

Der Anspruch des Buches ist, aus der Kenntnis und Analyse der Geschichte für die Zukunft etwas zu lernen oder zumindest ableiten, "erden" (S. 21) zu können, wie die beiden vorangestellten Motti von Malraux und Marx es postulieren. Der Leser muss die Geschichte eigentlich kennen. Mit wenigen Ausnahmen erzählt nämlich Münkler diese nicht, sondern ordnet sie zum Verstehen unter theoretischen Begriffen. Der ethische Anspruch des Buches ist es, auszuloten, ob Modelle wie "Frieden schaffen ohne / mit immer weniger Waffen" möglich sind oder ob man sich auf den Krieg vorbereiten muss, wenn man den Frieden will ("Vigetius-Modell" S. 42ff). Münkler verarbeitet eine Fülle älterer und aktueller historischer und politologischer Studien, rückt aber auch vierundzwanzig seiner eigenen Forschungen prominent ins Licht. Um ein wichtiges Ergebnis, welches sowohl real als auch frustrierend ist, vorwegzunehmen, sei im Kant-Jahr auf den Königsberger verwiesen: Die Idee vom "Ewigen Frieden" kann nur gelingen, wenn die agierenden Mächte demokratisch sind - und damit an Menschenrechten orientiert - und wenn es einen "Wächter" über eine Friedensordnung gibt. Spätestens mit Putins Angriffskrieg ist beides nicht in Sicht. Mit "revisionistischen Mächten" kann eine Friedensordnung nicht gelingen.

"Geopolitik" spielt eine entscheidenden Rolle. Voller Vertrauen in Ernst Kapp referiert Münkler das Werk des Geographen von 1845 und bringt mir interessante Einsichten. Danach gibt es drei Typen von Reichsbildungen: "potamische", entlang von Flüssen (Zweistromland, Nil, Mekong ...), "thalassische", solche um ein Binnenmeer herum (paradigmatisch das Römische Reich mit seinem "mare nostrum"), und schließlich "ozeanische" (England, USA, ...). In der Geschichte sehen wir nicht nur eine Hierarchisierung zur ozeanischen Reichsbildung hin, sondern auch eine stetige Westverschiebung der Hegemonialmächte, so dass man in dieser Hinsicht die Frage stellen darf, ob die Zukunft China gehört. Hier nicht einzuordnen sind die Mächte der "asiatischen Steppe".2 Diese haben aber in der Geschichte keine Reiche gebildet, sondern vorhandene zerstört. "Da wendet sich der Gast mit Grausen" (Schiller), wenn er auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine blickt.

Ausführlich klopft Münkler "Module der Weltordnung" ab und prüft, welche Zahl von Mächten am ehesten eine stabile Ordnung garantiert. Immer wieder am Westfälischen Frieden orientiert präferiert Münkler die Zahl fünf. Für mich erstaunlich bleibt, dass er mit keinem Wort auf Bismarck eingeht, der diese Pentarchie seiner Zeit so schätzte: "Sei unter Fünfen immer selbdritt!". Im Schlusskapitel kommt Münkler - und damit auch der Rezensent - auf die gegenwärtige Pentarchie zurück.

Beeindruckend ist das Kapitel über Narrative der Weltordnung. Auch hier erschreckt wieder, wie in Russland seit Mönch Filoei von Pskow ("Drittes Rom") über Dostojewski ("Die Zukunft Europas gehört Russland") zu ultranationalistischen Historikern wie Berdjajew (1983) und Alexander Dugin (2021) die Idee eines Neo-Eurasien ventiliert wird. Sie liefern die imperialnarrativen Grundlagen für Putins Versuch, den Zusammenbruch der Sowjetunion kriegerisch zu revidieren.

Nicht durchgängig durchzieht ein roter Faden das Buch. Die breiten Abschweifungen über biblische Tiere (Leviathan und Behemoth) scheinen nur das Sprungbrett dafür zu sein, sich ausführlich mit den Theorien Carl Schmitts zu befassen. Mich interessiert - ehrlich gesagt - nicht, ob Leviathan als "Krokodil" oder als "Schlange" zu lesen ist. Münkler fühlt sich offensichtlich motiviert, seine älteren Forschungen auch in diesem Buch erneut zu platzieren. Das wird besonders augenfällig, wenn dem Theoretiker Münkler bei Darstellung der großen "Analytiker Thukydides, Machiavelli und Clausewitz" die narrativen Gäule durchgehen: Er verlässt über viele Seiten hinweg die theoretische Ebene, um Ereignisgeschichte (vor allem die des Peloponnesichen Krieges) - sehr schön - zu erzählen, die er dann kurz analytisch mit Blick auf die Zukunft Europas auszuwertet.3

Wie ist nun die Welt derzeit geordnet? Es die Ordnung "der großen Fünf". Wir ahnen ja, wer die sind. Es ist eine 2:1:2 - Konstellation. Den beiden autokratischen Mächten China mit Russland im Schlepptau stehen die beiden demokratisch-freiheitlichen Blöcke USA mit Juniorpartner Europa gegenüber. Um unseren Kontinent im "Club der Fünf" sieht es gegenwärtig nicht sehr rosig aus. Um das zu verstehn, bräuchten wir eigentlich Münkler nicht; wohl aber dazu, zu erkennen, was denn Indien die Rolle des "Züngleins an der Waage" zuweist. Erst auf der letzten Seite gibt es hierzu ein paar Bemerkungen, die sich wesentlich auf Indiens (Bevölkerungs)Potenzial stützen. Das reicht mir nicht, auch nicht, dass die BRICS keine Beobachtung wert ist.

Die Welt verstehe ich allerdings nach dem Studium des Buches besser. Es ist aber keine frohe Botschaft, sondern eher eine Mahnung, dass wir aufwachen und aus einer pazifistischen Komfortzone austreten müssen.


Michael Seeger, 04. Februar 2024

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