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Peter Stamm: Nacht ist der Tag
Roman
S. Fischer, Frankfurt 2013, 253 S., 19,99 EUR |
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Zu viel gesagt
06. November 2013
Als
„Meister der Aussparung“ kündigt die Badische Zeitung die heutige Lesung im
Freiburger Theater an. Seine Texte ließen „viel Luft für Interpretation“.
Ich gehe nicht hin. Besser, Stamm hätte diesen Roman ausgespart. Er führt uns
nicht über unser Alltagserleben hinaus (Der
Metzger im Dorf empfahl ihr einen Rinderschmorbraten und erklärte ihr ausführlich
die Zubereitung, S. 236). „Sog“ und die „Spannung“, welche die FAZ
beschwört, habe ich nicht erlebt, eher Langeweile, Klischee und trivialen
Kitsch. Dass die Protagonistin „Gillian“ nach ihrem Unfall, bei dem sie das
Gesicht verliert (Ist damit nicht schon alles verraten?), sich dann „Jill“
nennt, sagt bereits alles: Es geht um die Wandlung eines Menschen aus der
Lifestyle-Welt zu einer doch recht mittelmäßigen Frau. Ihre Mitgliedschaft in
„der Programmkommission des
Kulturzentrums“ ist ihre „letzte
Verbindung zum Kulturbetrieb.“ (S. 175). Ansonsten koordiniert sie die
Freizeitaktivitäten in einem Engadiner Clubhotel.
Männerphantasien
Es fällt auf, welch kuriose Frauengestalten Peter Stamm entwirft. Sie
definieren sich den (geliebten?) Männern gegenüber selbst als Objekte: Agnes,
Iwona („Sieben Jahre“) und jetzt eben Jill. Warum sind sie ihrem Männern hörig?
Woher kommt diese Obsession, hier gegenüber dem doch eher unsympathischen
Photographen und Maler Hubert: „Er rückte
sie zurecht oder drehte sie um wie einen Gegenstand. (S. 225).? Und: Hat
dieser Autor die Liebe nicht schon einmal poetischer beschrieben als hier?: „Hubert
bewegte sich immer schneller, dann stöhnte er laut, zuckte ein paar Mal
zusammen und ließ sich auf sie sinken. Nach einer Weile richtete er sich wieder
auf und trat einen Schritt zurück. Jill spürte, wie sein Sperma an ihrem Bein
herunterlief. (S. 216). In welchem Genre befinden wir uns eigentlich?
Warum diese Obsession? Sie konnte sich
nicht erklären, was sie an Hubert anzog“ (S. 112). Bevor der Leser
Antworten versucht, gibt sie der Autor kommentierend gleich mit: „Sie wollte spüren, wer sie war (S. 112). Aha!
(Selbst)bildnisse
Was soll der Leser noch interpretieren, wenn der Autor bereits alles sagt? Wo
sind die Leerstellen, deren Meister Peter Stamm doch eigentlich ist? „Gillian
hatte immer gewusst, dass …sie irgendwann bezahlen musste für alles. Jetzt
hatte sie bezahlt (S. 16). Nachdem der Unfall ihr den Mann und die Nase
genommen hat, fragt sich die Protagonistin:
„Werde ich das sein?“ (S. 29). Aha, da muss sich ein Mensch vom
glitzernden Glamour zu mittelmäßigem Leben herunterdefinieren: „Ihr
Leben vor dem Unfall war eine einzige Inszenierung gewesen (S. 44).
Das
kennen wir aus „Agnes“, die Unschärfe und die Macht der Bilder, der
Fiktionen, der Geschichten: „Erst in der
Aneinanderreihung der Bilder entstand die Unschärfe, die einen Menschen
ausmacht (S. 48)“. Wer bin ich? Julien benutzt zur anonymen Annäherung an
den Künstler Hubert die fiktive E-Mail-Adresse „Fräulein Julie“, „als
sei sie tatsächlich eine andere (S. 59). Und Fragen, die sich beim
„Meister der Aussparung“ eigentlich der Leser stellen sollte, liefert die
Protagonistin gleich frei Haus: „Was ist
die Wirklichkeit?, fragte Gillian.“ (S. 66). Hubert aber „hatte
sich ein ziemlich genaues Bild von ihr gemacht“ (S. 67). Und angetrunken
„musste Gillian manchmal über die zwei
Gesichter im Spiegel lachen“ (S.81f). „Sie
hatte irgendwo gelesen, dass die meisten Menschen ein ganz unrealistisches
Selbstbild hatten“ (S. 93f). Déjà vu in Agnes: „Das würde dir Angst machen, nicht wahr, sagte sie, dass du mit
deiner Kunst einen Menschen töten könntest“ (S. 186).
Wandlung
zur Befreiung
Jedes (literarische) Leben habe eine geheime, tiefere Bedeutung sagt Orhan Pamuk.
In Stamms Roman ist dies die Wandlung Gillians. Leider ist sie nicht geheim.
Denn sie sagt zu Hubert: „Die
Vorstellung, dass ein Mensch etwas Abgeschlossenes ist wie ein Stuhl oder ein
Tisch, ist absurd (S. 188). Ein kurzes, schlichtes Zusammensein mit Hubert
hat dann auch tatsächlich eine heilsame Wirkung: „Es
kam ihr vor, als hätte sie niemals einen Unfall gehabt (S. 232). Fast
emotionslos verarbeitet Gillian danach, dass Hubert sie verlässt und zu seiner
Ex zurückkehrt, sie verarbeitet es, indem sie seine Bilder bekritzelt: Sie
löschte das Bild aus, so als bettete sie ihren schutzlosen Körper zur Ruhe
unter einer Schicht von Graphit, ein Fossil, das niemand je entdecken würde (S.
239). „Sie fühlte sich wie als Kind, wenn sie beim Versteckspiel entdeckt
worden war. Nach den atemlosen Minuten im Verborgenen war es wie eine Erlösung,
sie konnte sich wieder frei bewegen, es war alles nur ein Spiel gewesen. Sechs
Jahre lang hatte sie sich hier oben versteckt und gar nicht bemerkt, dass
niemand sie suchte. … Das Spiel war zu Ende, sie war frei und konnte gehen,
wohin sie wollte (S. 250-252).
Diese
Selbstbefreiung und Initiation nach einer drogenbestückten Open-Air-Tanznacht
scheint fast – nicht nur wegen des alpenländischen Ambientes - dem Kapitel
„Schnee“ im „Zauberberg“ nachgestaltet, erreicht aber, weil zu viel
gesagt ist, weder die Dichte Thomas Manns noch die in karger Sprache bestens
beschriebene Gebrochenheit der Protagonistin in Heins „Drachenblut“.
Christoph
Hein liest morgen, einen Tag nach Peter Stamm, in Freiburg.
Da
gehe ich hin.
©
2013-2020 Michael
Seeger, Letzte Aktualisierung 30.01.2020