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Jenny Erpenbeck:
KAIROS.

Roman

Penguin München 2021, 82024, 379 S., 14,00 EUR

ISBN 978-3-328-10934-1

gelesen: Dezember 2024

Autorin

Toxische Beziehung in einem toxischen, untergehenden Land

Macht und Kontrolle statt der postulierten einmaligen Liebe

Erzählt wird - im verhassten Präsens (warum denn nur?) - die obsessive und destruktive Liebesgeschichte zwischen der jungen Katharina und dem 34 Jahre älteren Hans, angesiedelt im Ost-Berlin der späten 1980er Jahre vor und in der Wendezeit.

Das Kennenlernen am Alex ist KAIROS, also ein günstiger Augenblick, den die beiden dann wie Teenager an jedem 11. des Monats als "Jubiläum" beschwören und feiern. Dass sich der Mitfünfziger Hans - vom Nazi zum Kommunisten mutiert - in ein hübsches junges Mädchen verliebt, mag ja nachvollziehbar sein, was aber um Marxens Willen findet und bindet die 19-Jährige an dem/den oberlehrerhaften, sexuell perversen (da wird auch die Gerte strafend gezückt. - S. 125) Machtmenschen und Konrollfreak, der seine Weltläufigkeit als Kader-Passbesitzer ausspielt und mit Diner-Einladungen, Sekt, Wein und Moskaureise zu imponieren sucht? Seine Russenglorifizierungen (Kap. II/10) stoßen ab. Die Erzählerstimme berichtet nie von einer zärtlichen Liebe, von schönem, erotischem Sex. Stattdessen fühlt man sich an Houellebecqs Pornografien erinnert, wenn Hans in einem Kontrollbrief an Katharina 34 Mal das Wort 'Schwanz', 6 Mal das Wort 'Fotze', 12 Mal das Wort 'ficken', "21 Mal ... die Worte 'Hintern', 'Arschloch' und 'von hinten' .... und je einmal die Worte 'Züchtigung', 'Vergewaltigung' und 'Gewalt' schreibt (S. 198f). Als Ex-Stasi-Spitzel ist ihm solche Machtausübung geläufig. Hätte aber Katharina nicht bei der großen Heiligen, der Nothelferin Katharina, die ja als Beschützerin der Mädchen gilt, Zuflucht suchen sollen? Stattdessen trifft sie sich zu jedem Stelldichein, das der verheiratete Hans freischaufeln kann, mit dem verehrten, geliebten (?) Besserwisser; reist der Famile zweimal in den Ostseeurlaub nach, um sich von Hans klandestin in den Dünen und Kiefernwäldern bespringen zu lassen.

Mir als Leser ist dieser SED-Typ vollkommen unsympathisch und Katharina wird mir nie sympathisch. Es reicht nicht einmal zu Mitleid. Das liegt auch an der kaum kommentierenden Erzählerstimme. Die stammt zum großen Teil von Erpenbeck selbst, so dass man auch von einem autobiografischen Erzählen sprechen kann. Die Autorin fährt ihr gesamtes Bildungspanorama (Musik, Archäologie, Museen, Radio, Theater, Oper, Literatur, kommunistische Ideologie) auf, lässt historische Figuren wie Brecht, Heiner Müller, Christoph Hein, Christian Grashof (in der berühmten Volksbühnen-Doppelrolle als Danton und Robespierre) leibhaftig auftreten. Wie aber ist das stilistisch gemacht? Diese Figuren erscheinen nicht im Erzählbericht, sondern im Dialog, in der erlebten Rede, im inneren Monolog, so dass der Eindruck entsteht, speziell Hans beschäftige sich permanent - auch beim Sex - im Kopf mit den großen Kultur- und Politik-Fragen. In der Handlung belehrt er Katharina über Picassos Guernica, Mozarts Requiem, den Pergamon-Altar, das Hotel Lux, den Lenin-Kult, Brecht und Piscator und, und, und. Erzähltechnisch misslungen offeriert eben die Autorin mit diesen Intertextualitäten ihrem eigenen Bildungshorizont, der auch der meine ist. Was habe ich also gelernt?

"Die Wahrheit ist immer konkret, hat das nicht Lenin gesagt? Hans hat es neulich für sie abgetippt, mit einem roten Farbband - und ihr das Blatt zum zweiwöchigen Jubiläum geschenkt." (S. 92 f)

Das Buch II, von Erpenbeck "Karton II" tituliert, wird dann völlig unerträglich. Nach Katharinas kurzer Affäre mit einem Theaterkollegen in Frankfurt/O., wo sie als Praktikantin arbeitet, überzieht Hans seine Geliebte (oder vielleicht eher "Sklavin"?) mit nicht endenden, vernichtenden Vorwürfen ob ihres Treuebruchs. Eine Philippika nach der anderen schickt er ihr als Anklageschrift oder besprochene Kassette, wozu sie Stellung beziehen soll. Und Katharina braucht lange, lebt noch die "Liebe" im Unglück, braucht wohl den Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 und schließlich noch die lesbische Beziehung zu Rosa, um sich - endlich! denkt der Leser - von diesem Manipulateur zu befreien. Die beiden verschwinden als Romanfiguren mehr und mehr hinter der Kulisse einer realen Geschichtserzählung, welche Erpenbeck im bekannten larmoyanten Opferton vorträgt:

"Seit zwei Monaten hat das Aluminiumgeld, das schon immer weniger wog als anderes Geld in der Menschheitsgeschichte, nun tatsächlich kein Gewicht mehr." (S 346)

Erst im dritten Anlauf befreit sich Katharina schließlich von ihrem Peiniger, der - im Abwicklungsprozess bei Radio DDR entlassen - offensichtlich im Suizid endet. Doch die Obsession bleibt, wie ihr finaler Besuch an seinem Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zeigt. Auch Hans' Hybris bleibt: Er ist neben Brecht und Eisler begraben (wie Jennys Großvater Fritz Erpenbeck).

Erst im Epilog bringt die Erzählerin die kritische Distanz zu diesem schrecklichen Herrenmenschen auf den Punkt: durch Dokumentation seiner Stasi-Geschichte als "IM-Galilei".

Erpenbeck wird im Feuilleton als literaturnobelpreisverdächtig gehandelt: mir nicht nachvollziehbar. Die Adelung liegt wohl an ihrem zum Lyrischen tendierenden (pseudo)existenzialistischen Stil, den ich allerdings als nicht passend empfinde:

"Etwas beginnt, etwas geht zu Ende - oder erfüllt sich, aber dazwischen windet die Zeit sich ins Leben hinein, verflicht sich, verwächst sich, ist nur eines nie: gleichgültig, sondern immer gespannt, eingespannt zwischen einem Anfang, den man nicht wahrnimmt, weil man mit dem Leben beschäftigt ist, und einem Endpunkt, der in der Zukunft, also im Dunkel, liegt." (S. 306)

Aha, so ist das also ....

Michael Seeger, 19.12.2024


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