Michael Seeger | Rezensionen | Forum |
Michel Houellebecq, Elementarteilchen
aus dem Französischen von Uli Wittmann, Roman, DuMont, (1998), Köln, 4 1999, 357 S., 44,00 DM
Wenig elementar - viele Teilchen!
Wenn der Leser das als Milleniumswerk attribuierte Buch des Franzosen Michel Houellebecq ausgelesen beiseite legt, besser senkrecht - wie den häufig erwähnten Ständer - aufstellt, darf er sich nicht wundern, wenn aus den in der Buchmitte nunmehr zusammengeklebten Seiten noch eine letzte weißgelbe Soße heraustropft. Sie rührt von dem zuhauf vor allem in der Buchmitte bevorzugt auf Kolleghefte verspritzen Ejakulat des traurigen Doppelhelden mit dem schön französisch klingenden Namen "Bruno", der - wie einst Onan - aber nicht aus Gotteslästerung bei jeder unpassenden
Gelegenheit seinen Stachel herausholt und seinen Samen verspritzt. "Wichsen" ist bei ihm keine Gotteslästerung, sondern nährt sich aus persönlichem und sexuellem Versagen, weil es ihm nur selten gelingt, in eine "geile Möse" oder einen "sinnlichen Mund" quickyartig zu ejakulieren. Dieser Sexritter von der traurigen Versagergestalt, der noch in der
Midlife-Crisis die Länge seines Schwanzes mit dem Zollstock nachmisst und als
Pseudoliterat rassistische Ergüsse über Schwarze als Tiere mit mächtigem Gemächt
kompensatorisch herausschleudert, scheint seit seiner durch sadistische Foltern im Internat beschädigten Jugend den prätendierten Sinn des Lebens nur noch in Sexobsession zu suchen - und natürlich zu verfehlen. Dass dieser trotz ständigen Ständers letztlich
impotente Literaturlehrer nichts Erstrebenswerteres auf der Welt findet, als sich seinen Pimmel immer wieder lutschen zu lassen, zeigt die Leerheit dieser Existenz auf, was sicherlich ein Anliegen des Autors ist. Eine schöne Satire auf die Ex-68-er ist die
Beschreibung vom ORT DER WANDLUNG; einem Campingplatz ehemals linker, jetzt nur noch alter Existenzen, die unter dem Vorwand, den esoterischen
Paradigmenwechsel zur Daseinserweiterung im New Age auszuprobieren, letztlich nichts anderes suchen als die allgemeine Kopulation. Weniger ironisch, fast schon hymnisch wird dagegen der 1999 obsolet anmutende Gruppensex im Nudistenzentrum Cap d'Agde beschrieben. Das völlig leidenschaftslose Sodom und Gomorrah in den Pariser "Swinger-Clubs" ist dagegen nichts als billige Pornografie, die sich in nichts von der einschlägigen Pornofilmindustrie unterscheidet, die ihre fragwürdigen Produkte in den privaten Fernsehkanälen anbietet. Das von Sex übervolle, von Ejakulat durchweichte Buch kommt in den Sexkapiteln auch nie in die Nähe der Erotik, Zärtlichkeit oder gar Liebe. Stattdessen dominiert die Hubkolben- und Kolbenlutschmechanik. Während der arme Bruno so immerhin manches Glück erfährt, was nur der Männerphantasie des Autors entspringen kann, fragt sich der Leser, noch mehr die Leserin, was denn eigentlich die Frauen des Romans veranlasst, jeden dargebotenen, bzw. verfügbaren Penis ungefragt zu lecken und sich das Produkt ihrer Mühe in Gesicht und Mund spritzen zu lassen.
Der Slogan "DIE WELT VON MORGEN IST WEIBLICH" (S. 352) lässt hoffen, dass Autorinnen der Zukunft den Leser von dergleichen Primitivitäten verschonen. Bei Houellebecq haben die Frauen aber einstweilen keine Chance: Sie sterben an
Selbstmord oder Krebs. Ein kleines Licht im Dunkel ist jene 16-jährige nordafrikanische Schülerin Brunos, die dem lächerlichen Pimmel des perversen Literaturlehrers die kalte Schulter zeigt. Der landet folgerichtig in der Psychiatrie, dann im
Erziehungsministerium, um nach dem Tod der Mutter lithiumgedämpft und damit endgültig impotent vom Autor in der Psychiatrie vergessen zu werden.
Die bereits gewürdigte Sexobsession ist nur eine Seite des Buches. Nach bewährter Manier, die an Hesses "Narziss und Goldmund" erinnert, ist dem sensualistischen Körperwesen Bruno sein rationalistischer Halbbruder Michel an die Seite gestellt, der in wissenschaftlicher Askese lebend an der Replikation des menschlichen Zellcodes
arbeitet. Seine außerwissenschaftliche Welterfahrung reduziert sich auf das wöchentliche Einkaufen bei MONOPRIX; Fress- und Sauftouren sowie der Erkenntnis, dass "Liebe unter gewissen Bedingungen ... auftreten konnte." (S. 342) Bei seinen wenigen körperlichen Lebensversuchen erlebt er aber im Gegensatz zu seinem Halbbruder
Erstaunliches: "Eine Welle des Bewusstseins durchlief sein Glied" (S. 311). Von der
Quantenmechanik kommend (Einstein, Bohr) ist er als Molekularbiologe ein "hellsichtiger Wegbereiter" der "dritten metaphysischen Wandlung" (S. 8). Nachdem er seine
Forschungen mithilfe gigantischer Großrechner in einem irischen Institut im Jahre 2009
vollendet hat, sendet er seinen bahnbrechenden Aufsatz "Prolegomena zu einer
vollkommenen Replikation" an die Académie des sciences in Paris und geht am
westlichsten Punkt Europas ins Meer.
Das Buch erhielt seinen Rezensentenruhm vermutlich wegen des den Genforscher Michel umgebenden Diskurses über die "Dialektik der Aufklärung", also eines
philosophisches Gesprächs. Beim ersten schnellen Lesen geht man dem Autor auf den Leim und glaubt tatsächlich, dass es sich hier um ein Jahrtausendbuch handelt. Zunächst glaubt man, dass es in diesem Diskurs tatsächlich um das Problem "der Freiheit und des Individualismus" gehe, welche beide durch die Entdeckung des universellen Zellcodes infrage gestellt und "befreit", also erlöst würden. Reizvoll zu lesen ist der fast chronikalische Rückblick auf den Dezember 1999, der "für die ganze Bevölkerung der westlichen Welt eine seltsame Epoche, die von einer besonderen Erwartung, von einer Art dumpfen Grübelns, gekennzeichnet war" (S. 331). Vertraut sind dem Bewohner der westlichen Welt solche Zeitreisen aus den Werken der beiden Huxleys (Aldous und Godalming), die im Denken des Genforschers Michel eine große Rolle spielen. Erst spät entdeckt der Leser den philosophischen Diskurs als Masche, als eine legitimatorische Verpackung für die Ejakulationspassagen um den Halbbruder Bruno, die sich schließlich als nichts anderes denn als billige Pornografie offenbaren.
Wodurch wird diese Skepsis genährt? Wie immer verrät die Sprache: Wenn immer wieder die "Frauen die Schenkel spreizten" und stets "das Meer glitzerte", merkt man, auf welchem nicht nur sprachlichen Niveau man beim Lesen angekommen ist.
Inhaltlich geht es dabei um wuchtige Aussagen dieser Art:
"Das Verschwinden der emotionalen Qualen bereitete in Wirklichkeit der Langeweile, dem Gefühl der Leere und dem ängstlichen Warten auf Alter und Tod das Feld." (S. 319)
oder:
"Egal wieviel Mut, Gelassenheit oder Humor man im Laufe seines Lebens entwickelt hat, am Ende bricht es einem doch immer das Herz. Und dann lacht niemand mehr, Was bleibt, ist nur noch Einsamkeit, Kälte und Schweigen. Was bleibt, ist nur der Tod." (S. 328)
So enthält also die Botschaft des Romans "Elementarteilchen"
wenig Elementares, verliert sich die Story in vielen, letztlich beliebigen
Teilchen.
Was aber hält den Leser an diesem Buch? Sicherlich die Erwartung auf die Einlösung des schon in der "Vorrede" ausgestellten Wechsels auf ein großes (faustisches) Thema. Gelungen ist auch die eiskalte Sprache, in der völlig emotionslos über die atomaren Teilchen in der gleichen Weise gesprochen wird wie über die "Krause-Endkolben", mit denen die Geschlechtsorgane übersät sind. Das erinnert stark an Goethes
"Wahlverwandtschaften", wo am Beispiel der Chemie über die "Mischung der Paare" gesprochen wird. Reizvoll ist auch der lakonische Stil, der übergangslos von der direkten oder erlebten Rede über eine auktoriale Sentenz zu einem wissenschaftlichen
Collageimplantat wechselt, wie wir das von Joyce und Döblin kennen. Der Leser zwischen vierzig und fünfzig erlebt vielleicht auch im sinnentleerten Sexwahn des perversen Bruno das eigene Leiden an seinem physischen Verfallsprozess: das Alter, das ihn dem Tod
nahe bringt.
Wenn die Fiktion des Romans Wirklichkeit werden sollte, sind diese Sorgen allerdings obsolet. Aus der Perspektive des Jahres 2080 erzählt, erfahren wir nämlich in der "Nachrede", dass ein Schüler Michels dessen Forschungen über die Replikation bis zur beherrschten Technik des Klonens entwickelt hat. Wir erleben das Aussterben des alten Menschen der "materialistischen Ära" und die Ausbreitung der zu völliger Sinnlichkeit befreiten Klone. Der fiktive Erzähler ist als ein Klon dieser Art Vertreter der neuen ewigen Spezies und widmet sein Buch
dem Menschen.
Wir aber widmen diese Rezension dem lesenden Menschen, der zwischen Masche und Qualität zu unterscheiden weiß.
Michael Seeger, 30. Dezember 1999
© 1999-2020 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 30.01.2020