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Kazuo Ishiguro: 

Was vom Tage übrig blieb

1989; deutsch: 1994 Rowohlt Reinbek

jetzt: München 2016 (Heyne 42160) 288 S., 9,99 EUR

gelesen November 2017

 

Autor

Pflichtgefühl bis zur Selbstverleugnung

 

Wenn das Nobelpreiskommitee einen Autor nominiert, den man bislang nicht gelesen hatte, greift man gerne zu dem seiner wenigen Romane, mit dem er einst berühmt wurde. Als das "englischste" des japanstämmigen Ishiguro ist das Werk gerühmt worden. Schon allein die Tatsache, dass der Ich-Erzähler ein nach höchster Leistung und "Würde" strebender Butler auf Darlington Hall ist, mag dafür sprechen. Für den republikanischen kontinentaleuropäischen Leser ist die erzählte Welt der edlen Anlagen, Gäste (Halifax, v. Ribbentrop, Lloyd George), Lordschaften so aristokratisch fremd wie die als "professionelle Hingabe an das Dienen" überhöhte Feier einer Sekundärtugend, welche dazu führt, dass der schließlich gebrochene Protagonist Stevens sowohl beim Tod seines Vaters menschlich versagt als auch seine in ihm aufkeimende Liebe zur Haushälterin Miss Kenton nicht wahrnehmen und wahrhaben kann. Als er sie schließlich nach viertägiger Autoreise, während der der eigentliche Erzählvorgang als Erinnerung einsetzt, wiedertrifft und beide erkennen, was sie miteinander aneinander verpasst haben, gibt der Ich-Erzähler ein einziges Mal seine Contenance auf, um in einem den Butler-Stil brechenden Eingeständnis zu sagen: "In diesem Augenblick brach mir das Herz." (S. 280)

Der Protagonist scheitert nicht nur als Sohn, als Liebender, als Individuum, er scheitert auch zusammen mit der Klasse, welcher er dient (der neue Herr ist ein schnoddriger Amerikaner), und ja, er scheitert auch politisch-ideologisch: Fanden in Darlington Hall doch halboffizielle Treffen - quasi als Neben-Außenpolitik - statt zwischen britischen Politikern und dem späteren Nazi-Außenminister von Ribbentrop, in welchen die berüchtigte Appeasement-Politik geschmiedet wurde. Trotz warnender Stimmen rechtfertigt Stevens die Hitler-Anbiederung vor sich selbst als großen Wurf "seiner Lordschaft".
Die gesamte Erzählung kommt daher als Selbstrechtfertigung - in Walter-Faber-Manier: "Sagen wir es ganz deutlich: Pflicht eines Butlers ist es, eine gute Dienstleitung zu erbingen und nicht, sich in die großen Angelegenheiten der Nation einzumischen. Solche Angelegenheiten werden immer das Verständnis gewöhnlicher Menschen wie unsereins übersteigen." (S. 237)

Der stilische Duktus dieser wie aller Äußerungen des Ich-Erzählers ist appellativ, u.a. wegen der steten Redeeinleitungen für die Ansprache an ein imaginäres Gegenüber. Diese Erzähltechnik bleibt aber inkonsistent - der größte Mangel des Buches. An später Stelle nennt der Erzähler seinen Text "Bericht" (S. 214), was die Erzählstruktur aber nicht wiedergibt. Es handelt sich nämlich um einen nicht schriftlich fixierten Erinnerungs-Gedankenstrom während einer viertägigen Autoreise zu Miss. Kenton, heute Mrs. Benn. Die Leser-Adressierung ist insofern ein stilistischer Bruch, wie die immer wieder eingestreuten Zeitangaben ("heute Abend, vor einer halben Stunde, jetzt") belegen.

Da sich die literarische Höhe eines Nobelpreisesträgers in diesem Buch mir noch nicht vermittelt hat, muss ich zunächst ein weiteres lesen.

>> Der begrabene Riese

Michael Seeger, 25. November 2017

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