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Susanne Abel

Stay away from Gretchen.
Eine unmögliche Liebe

Roman

dtv München 2021, 102024, 544 S., 13,00 EUR

ISBN 978-3-423-22014-9

gelesen: April 2025

Autorin

Horror mit Happy End

Krieg, Vertreibung, Nachkriegs-Rassismus: durchaus unterhaltsam erzählt

Um es vorweg zu sagen: Abel lässt kein Klischee aus. Nazipropaganda, ostpreußischer Starrsinn, Sportpalastrede, klirrende Kälte bei Flucht und Vertreibung, Massenvergewaltigungen durch sowjetische Soldaten, Feindschaft der einheimischen Bevölkerung gegen Flüchtlinge, Talent beim Organisieren auf dem Schwarzmarkt, freundliche amerikanische Besatzungssoldaten mit Schokolade und Kaugummi, Arbeitseifer der Trümmerfrauen, Heimkehrerelend, Rote-Kreuz-Suchanfragen, Negermusik, schwarzer Trompeter, Militär-Clubabende, der nette Schwarze im Jeep, Ami-Flittchen, der sympatische sozialdemokratische Opa und der eklige NS-verseuchte Vati ("Was soll diese Negerscheiße hier?" S. 342), Lebensmittelkarten, Einquartierungen, das Wunder der Währungsreform, starrsinnige, feige Bürokraten, Krönung Elisabeths II im neuen Fernsehen, wachsender Wohlstand, Rassismus der Nachkriegszeit, toxische Männlichkeit eines TV-Moderators, Verrücktheit einer "unwürdigen Greisin" - all das haben wir dutzendfach so gelesen und im Film gesehen, so dass wir nicht mehr wissen, ob dies geschichtliche Wirklichkeit ist oder eben einfach ein Narrativ, das immerfort auf die gleiche Weise erzählt wird, genauso wie das Schreien und Marschieren der SA-Verbände.

Und dennoch liest man all das Bekannte gerne, weil Abel gut erzählt, einen schönen epischen Sog erzeugt, unterhaltsam, leicht zu konsumieren und gleichwohl betroffen machend. Das gilt für die im Präteritum erzählte Vergangenheit der jungen Greta.

"Am schlimmsten fand Greta die abgelegten toten Säuglinge, die mit einer Schippe Schnee nur notdürftig zugedeckt wurden." (S. 80)

Die Gegenwart der 84-jährigen Greta in den Jahren 2015/16 wird aus der Perspektive ihres Sohnes Tom im Präsens erzählt, atmet den (Medien)Geist unserer Zeit, ist aber weniger überzeugend. Hier kommt dann z.B. Bundeskanzlerin Merkel leibhaftig vor, der die Autorin "für die menschlichen Entscheidungen (...) im Sommer 2015" (S. 526) im Epilog dankt. Den Nachrichtenmoderator Tom Monderath lässt die Autorin in einer Art RTL-Primitivsprache denken und reden. Bei ihm ist schnell alles "verfickt", ist ein Gegenüber flugs ein "Arschloch". Dieser Tom ist um die Unterbringung seiner dementen Mutter Greta bemüht, stößt dabei über ein Foto (wie könnte es anders sein!) auf deren Liebesvergangenheit mit dem schwarzen US-Soldaten Robert (Bobby), von dem sie ein "brown baby", Marie, hat. Der rationale Fernsehmann ist immer mehr erregt und emotional aufgewühlt, was Abel hauptsächlich durch den Aggregatszustand seines Blutes darzustellen versucht: Dieses Blut gefriert dann oder kocht, schäumt, "treibt den galoppierenden Puls an seinen Hals", seine "Tränen fließen", "ein Kribbeln durchzieht Toms Körper. Sein Herz rast." (S. 412f). Tom erleidet schließlich während einer Live-Sendung einen Zusammenbruch. Das Happy-End ist äußerst kitschig - inhaltlich und stilistisch. Tom reist nach New Orleans, findet tatsächlich Bobby in einem Veteranenheim, bringt den alten Mann mit nach Deutschland zu seiner Mutter, findet mit Hilfe seiner Assistentin die verschollen geglaubte Marie, von der er gar noch von der Existenz seiner Halbschwester erfährt.

Die Probleme der von mir schon oft kritisierten Präsens-Romane verdeutlicht ein Versuch mit einem Temporalsatz:

"Als Amy sich der Flirtereien erwehren kann, tritt sie nach vorne ..." (S. 455)

Schön und vertraut, weil es Topographie, Dialekt und Mentalität so gut trifft, ist die erzählte Welt in Heidelberg und Köln. Verdienstvoll sind Abels Forschungen über die "Brown Babies" und deren "humanitäre" Adoptionen, zu "transgenerationalen Traumata". Authentisch ist - auch sprachlich - die Gestaltung des Nachkriegsmilieus mit den Aggressionen der guten (bösen) Bürger gegen die "Negerhuren" und "Negermusik". So muss es in den 40-er und 50-er Jahren gewesen sein. Bei diesem Buch habe ich keinen Aufschrei vernommen wie den von Jasmin Blunt über die Abiturlektüre "Tauben im Gras", gut so.

Michael Seeger, 05. Mai 2025


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