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Robert Gernhardt:

Was das Gedicht alles kann: Alles

Texte zur Poetik

S. Fischer TB 90451, Frankfurt 2010, 667 S. 10,99 €

ISBN 978-3-596-90451-8

gelesen Februar 2022

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Was Gernhardt alles kann. Alles!!

Genüssliche Poetik der Poesie

Wer außer Heinz Schlaffer kann so tiefgründig und unterhaltsam zugleich über Literatur schreiben? Das ist wahres PRODESSE ET DELECTARE!

Erst nach seinem Tode habe ich diesen fulminanten Autor entdeckt, dem der Schalk unbändig im Nacken sitzt. Seine Texte sind mehr als Kalauer oder Sprachspiele. Es handelt sich um Germanistik auf höchstem komischen Niveau, was nach jedem Kapitel die Lust auf die beschriebenen Urtexte überborden lässt.

Mit Schiller ist der "Lyrikwart" gnädig ("Der Schiller-Prozeß" endet mit einem Antrag auf "Freispruch"!). Schon in seinem Essay "Berührt - nicht gerüttelt" ( S. 500 ff) lässt er "unhaltbare Tatsachenbehauptungen" auch im Gedicht nicht gelten: Der "Zoologieschluri" Wolf Biermann setzt statt eines Leoparden einen Jaguar nach Afrika (S. 504); Hesse verpflanzt das südamikanische Raubtier nach Asien. An Rühmkorf kritisiert er, dass er Krähen "schwirren" statt "schaufeln" lässt. Benn lässt ein "Vogel-Du" "flügelrauschend über die Anden" schweben und muss sich von Gernhardt belehren lassen, "dass der Vogel nicht die Schwingen rührt, sondern die Thermik nutzt." (S. 506). Bei Michael Krüger "rüttelt" wie der Falke ein Habicht. Ina Seidel lässt über der Großstadt anstelle der kreischenden Mauersegler Schalben, die doch ins Dorf gehören, mit schrillem Schrei" zur Schwester werden. Der an anderem Ort freigesprochene Schiller muss sich aber anhören, dass Kraniche nicht krähen. Hofmannsthal kommt mit den Jahresabfolgen durcheinander, wenn er im Gedicht "Vorfühling" den Wind "Akazienblüten" niederschütteln lässt - und das in Wien, wo dieser Baum doch frühestens im Mai blüht. Und so weiter ... Gernhardt ist nicht nur biologiekundig, sondern legt insgesamt Wert darauf, dass man auch im Gedicht die "Wahrkeit" sagt.

Und so muss er Ingeborg Bachmann mit ihrem hochgelobten Gedicht "Die gestundete Zeit" ordentlich in die Pfanne hauen. Ich gebe eine komplette Passage zur Kenntnis:

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Folglich ist sein Urteil "leider ungenügend". Zu Bachmanns prophetischer Warnung >Es kommen härtere Tage< konstatiert er: "Ja, die sind angebrochen." (S. 424)

Es ist aber nicht so, dass Gernhardt nur als gnadenloser Satiriker auftritt. Nein, er lässt uns teilhaben an seiner Begeisterung für Busch, Schiller, Rühmkorf, Morgenstern, Ringelnatz ... und empfiehlt:

"Brecht lesen und lachen". - Das will ich als nächstes tun!

Michael Seeger, 10.03.2022

© 2002-2022 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 10.03.2022