Michael Seeger Rezensionen Forum

Autor

 

Wolfram Fleischhauer:

Der gestohlene Abend

Piper München Zürich 2008, 364 S. 19,90 EUR

ISBN 978-3-492-25496-0

gelesen November 2019

 

Cover

Tod des Autors?

Philosophisch und erkenntnistheoretisch tiefschürfender Campusroman

Wenn, wie zuletzt bei Wagendorp vermutet, ein Nichtrennradfahrer den „Ventoux" kaum zu Ende lesen wird, so wird bei „meinem jüngsten Fleischhauer“ ein Nicht-Literaturwissenschaftler sicherlich kapitulieren. Als rennradfahrender Germanist konnte ich beide Romane begeistert goutieren. Es gilt eben mal wieder das „TUA RES AGITUR“.

Den beiden scharfsinnigen Rezensionen in der FAZ und im DLF möchte ich nur einige wenige Aspekte hinzufügen.

In guter literarischer Tradition geht es um Liebe und Tod; neben dem (diskret erzählten) Sex auch um Crime. Der Campusroman changiert zwischen Liebe (Janine, was eine Granate! Matthias, ein Wilhelm Meister?) und Kabale, wie sie bei Unikarrieren typisch ist. Die Hauptrolle spielt aber eine abstruse postmoderne Literaturtheorie vom „Tod des Autors“ und der daraus folgenden totalitären Relativierung aller Unterschiede, also auch dem Ende von Schuld und Verantwortung. Der Autor steht mittels der beiden Sprachrohre Theo und dem Ich-Erzähler Matthias dem strukturalistischen Mantra kritisch gegenüber.
Indem Matthias in einer Lebenswende Konferenzdolmetscher wird, wachsen die autobiografischen Bezüge. Die Intertextualität – auch ein postmoderner Zug – liefert für Shakespeare (Sonette) und Kleist (Familie Schroffenstein und Marionettentheater) bereichernde Anregungen.

Sprachlich setzt das Buch keine Akzente. Das liegt am Genre Campusroman mit dem vorherrschenden szenischen, dialog-lastigen Erzählmodus.

Für die Absurdität postmoderner Theorien mag ein Bericht über Janines feministischen Vortrag stehen, den Matthias simultan dolmetscht. Nach 17 Jahren haben sich die Exgeliebten nichts mehr zu sagen:

"Janine sprach von der angeblichen Freiheit westlicher Frauen und der vorgeblichen Unterdrückung von Frauen im Islam. Sie vertrat die These, dass der Verschleierungszwang in manchen arabischen Ländern strukturell das Gleiche sei wie der Pornografiezwang im Westen. Der Westen, so argumentierte sie, sehe nur die Gewalt in der verschleierten Muslimin, sei aber blind für die Gewalt des voyeuristischen Blicks in westlichen Ländern.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Marieke den Kopf schüttelte. Lag das an mir? Hatte ich einen Fehler gemacht? Ich drehte die Lautstärke etwas hoch. Nein, ich verstand genau, was Janine sagte. Soeben erörterte sie die symbolische Bedeutung der Beschneidungspraxis und Klitorisverletzung in manchen islamischen Gesellschaften. Dann versuchte sie darzulegen, dass die Form der weiblichen Kastration
(sic!) strukturell mit Schönheitsoperationen und Selbsverstümmelungsphänomenen in den westlichen Ländern vergleichbar sei. Am Ende ihres Vortrags kam sie zu dem Schluss, dass die Situation für die Frauen im Westen vielleicht sogar die schlimmere sei. Einer altmodischen, aber leicht durchschaubaren Unterdrückung im Islam stehe eine heimtückische Vergiftung der westlichen Frau durch falsche Selbstbilder gegenüber, gegen die Frauen so gut wie machtlos seien." ( S. 357f)

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In einer anderen Passage geißelt Matthias‘  Vater die Geisteswissenschaften so:

"Ich hätte doch jetzt dieses Stipendium, hatte ich ihm entgegnet. Ein einziger Quatsch seien diese ganzen Stipendien, hatte er erbost erwidert. Und dann kam das alte Lied. Kein Land der Welt brauche Tausende von Anglisten oder Germanisten. Geisteswissenschaftliche Fakultäten seien keine Orte der Ausbildung, sondern Stätten der Einbildung, realitätsfreie Räume, wo man Arbeiter- und Bürgerkindern ein paar Jahre lang ein Lebensmodell vorgaukle, das früher dem Adel vorbehalten gewesen und zu Recht weitgehend ausgestorben sei: die beneidenswerte Existenz von Privatgelehrten. Ich sei das ahnungslose Opfer eines völlig überholten Bildungsbegriffs, der aus den verqueren und weltfremden Vorstellungen eines Haufens romantischer und lebensuntüchtiger Spinner im späten achtzehnten Jahrhundert hervorgegangen und für die deutsche Geschichte wiederholt fatal gewesen sei. Ich solle doch endlich in der Wirklichkeit ankommen." (S. 46)

Wer sich für die realen und autobiographischen Hintergründe des Romanplots interessiert, der schaue beim Autor selbst nach, der ungewöhnlich offen seine eigenen Werke beschreibt, erklärt und interpretiert.

Michael Seeger, ZA-Brackenshills, 26. November 2019

 

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