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Judith Hermann:

Daheim

Roman

S. Fischer Frankfurt/M. 2021

189 S., 21,00 EUR

ISBN: 978-3-10-397035-7

gelesen März 2023

Hermann

Einsamkeit: Leiden und Überwindung?

Eine Frau lässt vieles hinter sich und will an der Küste Wurzeln schlagen.

Soll ich mich von einem Zauberer in einer Kiste zersägen lassen und dafür nach Singapur reisen? Oder lieber vom Balkon aus die Tankstelle rauchend beobachten? Oder weiter - sinnfrei - in der Zigarettenfabrik arbeiten? Soll ich mich vom Mann Otis (der sich als "Messie/Archivar" gegen die kommende Katastrophe rüstet) und der erwachsen gewordenen Tochter Ann (Immerhin schickt sie von Zeit zu Zeit ihre Koordinaten) trennen, um an der Nordseeküste vielleicht Wurzeln zu schlagen?

So sehr die Ich-Erzählerin in ihrem lakonischen Stil sich immer wieder ihrer selbst versichert, mit der Nachbarin-Freundin Mimi beim Sonnentergang Weißwein trinkt - der Leser erträgt ihre Verlassenheit kaum. Da hilft es auch nicht, dass sie - im Rückblick - einst im Schwimmbad zu einem nackten Mann in die Umkleidekabine gegangen ist, auch nicht, dass sie sich zum Schweinezüchter Arild ("Sein Bauch ist fest, sein Geschlecht selbstbewusst" (S. 115) ins Bett legt. Wenig Trost bieten auch der Briefwechsel mit Ex-Mann Otis, den sie offensichtlich immer noch liebt, oder die knappen Skype-Kontakte mit Tochter Ann. Fast scheint es, als sei der Kontakt zu den Vögeln der Nordesee und den Tieren, die in eine Marderfalle gehen (wieder eine Kiste!), menschlicher als die gescheiterten Versuche, Gemeinschaft zu finden.

Trotz allem Archaischen spielt Hermann die Öko-Karte der Moderne, wenn es an der Nordsee "überhaupt nicht mehr regnet": Lunde lässt grüßen! Sie erfindet ein Kuriosen-Kabinett an Figuren: Neben dem Bruder, einem Versager als Gastwirt und Mensch, taucht seine 20-jährige "Flamme" ohne Zähne auf. Sie wurde als Kind in eine Kiste (schon wieder!) eingesperrt und trägt den contraindizierten Namen Nike. Das schützt sie nicht davor, überfahren zu werden.

Wir dagegen werden sprachlich nicht überfahren. Die extrem unambitionierte Sprache evoziert nichts als Langeweile. Sicherlich soll sie dem langweiligen Alltag eignen. Es ist für mich aber nichts als das uninspirierte tausenfach variierte "sage ich ...", "sagt er ...". Dass ab S. 57 ins (für die Epik mir verhasste) Präsens gewechselt wird, verstärkt die Alltagslangeweile.

Und so beglückt uns die viel gepriesene Autorin mit so poetischen Sätzen wie:

"Ich streiche Butter aufs Brot, rühre Zucker in den Tee." (S. 166)

Wenn Hermann wirklich poetisch werden will, ist es für mich nur volutaristisch und damit peinlich:

"Und möglichweise träume ich und habe alles geträumt, auch Nike, auch ihre hohlen Wangenknochen, ihr Kartenspiel und ihre Wehrhaftigkeit, ich habe Ann geträumt und Otis, ich träume das Wasser, meine Kindheit, mich." (S. 178)

Ich aber träume nicht, bleibe hellwach und folge der Autorin nicht weiter. Ich bleibe bei mir "DAHEIM":

Michael Seeger, 13.03.2023 top

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