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Paolo CoelhoElf Minutenaus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann Diogenes Verlag Zürich 2003 286 S. 11,00 EUR gelesen März 2018 |
Wenn ein verwöhnter Bestseller-Autor einen neuen Roman vorlegt, nimmt er es literarisch wohl nicht mehr so genau. Die märchenhafte Geschichte eines brasilianischen Dorfmädchens ("Es war einmal eine Prostituierte namens Maria", S. 7), das als Bardame nach Europa angeworben wird, spielt in Genf, dem Wohnort des Autors. Der ist in seinem Roman für sich, für die Protagonistin und wohl auch für den Leser auf der Suche nach den Urgründen des Sex, der "heiligen Prostitution", dem G-Punkt, dem Sadomasochismus, der wahren Liebe und der esoterischen Selbstfindung.
Das alles ist ein bisschen zu viel für den sprachlich ganz schlicht daherkommenden Roman. Neben den erzählenden Teilen, die meist im Umfeld der Bar "Copacabana" spielen, sind Tagebucheintragungen Marias eingestreut, welche das Geschehen reflektieren. Auch in der Erlebten Rede finden solche Selbstvergewisserungen statt. Und da resümiert das naive Dorfmädchen tatsächlich auf diese Weise: "Solche Dinge passieren eben, gehören mit zur Initiation des Menschen auf der Suche nach dem anderen Teil." (S. 124). Da darf sich Maria dann wundern: "Wenn ich mein Tagebuch lese, kommt es mir so vor, als ob bestimmte Sätze nicht von mir stammten, sondern von einer Frau voller >Licht<, die ich bin und die zu sein ich mich weigere." (S. 125)
Es geht viel um den weiblichen Organsmus und in weiten Passagen fühlt man sich wie im Oswald-Kolle-Film "Deine Frau, das unbekannte Wesen" (1969). Aber im Gegensatz zu Kolle operiert Coelho immer mit einem Hauch Metaphysik:
"Ich wüßte gern, wie man zum Körper gelangt, bevor man zur Seele, zur Penetration, zum Orgasmus kommt. (...) Auch er muss etwas an ihrer Hand gerochen haben, doch sie weiß nicht, was es ist, und will nicht fragen, weil in diesem Augenblick alles Körper ist und sonst Schweigen herrscht. (...) Es kommt ihr so vor, als hätte sie plötzlich auf geheimnisvolle Weise ihre Jungfräulichkeit wiedererlangt, als entdeckte sie zum ersten Mal einen männlichen Körper. Sie berührt seinen Penis. Er ist nicht hart, wie sie gedacht hatte. Sie selbst ist ganz naß. Das ist ungerecht, aber vielleicht braucht der Mann länger, wer weiß." (S. 358)
Und weil das alles noch nicht genug ist, darf die alte Bibliothekarin bei Marias Abschiedsbesuch - erzähltechnisch völlig daneben! - die Kolle-Aufklärung ausweiten:
"Es gibt einen Nervenstrang, der von der Klitoris zum G-Punkt verläuft und äußerst wichtig ist. Doch die Männer glauben das nicht, sie meinen, Eindringen reiche aus. Wissen Sie, was der G-Punkt ist?" (S. 254)
Und als wäre das alles noch nicht peinlich genug, muss Coelho in einem Nachwort - sich quasi für das Sujet rechtfertigend - auch noch begründen, warum er sich so intensiv mit dem Sex beschäftigt hat:
"Um über die heilige Seite des Sex schreiben zu können, mußte ich begreifen, warum Sex so herabgewürdigt worden war." (S. 284)
So gelangweilt muss ich meine Verrisse von Houellebecqs Romanen, bei denen das Ejakulat fast aus jeder Buchseite fließt, beinahe etwas abmildern. Dort haben wir immerhin Themen, die sich ernsthaft mit der Zeit, in der wir leben, befasssen.
Michael Seeger, 3. April 2018
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