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Andrea WulfAlexander v. Humboldtund die Erfindung der NaturDeutsch v. Hainer Kober C. Bertelmann, München 2016 556 S. 24,99 EUR gelesen Februar 2018 |
Von Kehlmann (> "Die Vermessung der Welt") auf Humboldt scharf gemacht, begegnete ich dem im 19. Jh. berühmtesten Menschen nach Napoleon auf meinen Südamerika-Reisen auf Schritt und Tritt. Klar greift man - wenn ein Buch so promoviert wird (Denis Scheck in der ARD, Nicole Köster im SWR-Leute, Spiegel-Bestseller etc) - dann schnell zu dieser "monumentalen Biographie" (Scheck).
Dem allgemeinen Lob kann ich mich weitgehend anschließen: In unprätentiösem Stil erzählt die Autorin ein großes Leben. Wulf lässt uns teilhaben an der Vita des Universalgelehrten, an den politischen Verhältnissen (Franz. Revolution, Amerikanische Unabhängigkeit, Jefferson, Bolivar, Friedrich Wilhelm II/III, Zar Alexander), lässt uns reinschauen in die Welt der Wissenschaft (Darwin, Häckel) und der Kultur. Die Sprache ist präzise und trotz des wissenschaftlichen Gegenstandes im besten Sinne populär, womit sie dem bewunderten Gegenstand Referenz erweist, der ja auch zu seiner Zeit das Kunststück fertig gebracht hat, die Massen für die Natur(wissenschaft) zu begeistern. Man wundert sich über das gute Deutsch in der Übertragung von Hainer Kober, aber nur auf den ersten Blick. Sicherlich ist Wulf die Übersetzung durchgegangen. Als Kind deutscher Entwicklungshelfer in Indien geboren, verfügt die Deutsch-Britin selbst über muttersprachliche Kompetenz im Deutschen. Jedes Kapitel ist wie eine Miniatur im Reportagestil eingeleitet und bildet für sich je eine Episode, die auch isoliert gelesen werden kann.
Die Botschaft ist eindeutig: Humboldt ist ganz im modernen Sinne nie müde geworden, zu betonen, dass und wie die Natur ein lebendiger Organismus sei, dass alles mit allem zusammenhänge, das kleineste Detail nur im großen - kosmischen - Zusammenhang verstanden werden könne. Als wahrer Freigeist grenzte Humboldt an den Atheismus, wenn in dem Monumentalwerk "Kosmos" kein einziges Mal Gott erwähnt wird. Bewundern wird der Leser Humboldts starke Physis, die ihm bis ins hohe Alter blieb, sein Mut, seine Energie, sein Fleiß, seine Rastlosigkeit ("von zehntausend Säuen gejagt"!). Wir lernen auch seine Egozentrik kennen, wenn er - stets Mittelpunkt aller Gesellschaften - in nicht endender monologischer Vortrags-Suada nicht nur den jungen Darwin nervte. Im Gegensatz zum Neptunisten Goethe ist Humboldt bis zum Ende Vulkanist geblieben. Er hat recht eigentlch die Ökologie begründet, die 100 Jahre später von John Muir (Kapitel 23) politisch wirksam gemacht werden konnte.
Wulf gehört zu den BiographInnen, die aufgrund ihrer Liebe zum Gegenstand manchmal etwas die nötige Distanz vermissen lassen, so dass das ganze Leben zu einer einzigen Hommage gerät. Etwas kritischer hätte man die Besteigung des Chimborazo schon schildern können. Obwohl klar ist, dass Bonpland, die indigenen Träger und Humboldt selbst als Expeditionsleiter 300 Höhenmeter vor dem Gipfel umdrehen mussten, ist hernach immer wieder von der (Erst)Besteigung des Andenriesen die Rede. Auch über Humboldts Homosexualität, auf die schon Kehlmann hingewiesen hatte, hätte man gerne mehr und Genaueres erfahren (S. 114f). Ebenso hätte der von Humboldt 1828 organisierte Berliner Wisssenschaftler-Kongress genauer erzählt werden können. Ansonsten ist das Werk bestens recherchiert, ausgewiesen durch einen Anmerkungsapparat von 70 Seiten. Das Register ist wirklich hilfreich.
Wer sich auf leichte Weise in das Leben eines Großen und in die kulturelle Situation des 19. Jahrhunderts reinlesen und sich dabei lernend unterhalten lassen will, ist bei bei Andrea Wulf richtig aufgehoben.
Mir, dem Excel-Freund, gefällt natürlich der Vermessungswahn Alexanders. Dem Freund schnellen Lebenstempos bleibt in Erinnerung, wie Humboldt in rasender Kutsche innerhalb von 24 Stunden 300 km in Sibirien zurückgelegt hat. (S. 262)
Michael Seeger, 13. Februar 2018
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