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Herman Lehmann

Neun Jahre unter den Indianern 1870-1879

aus d. Engl. übertragen von Bernhard Rubenbauer

(1927) Boeckman-Jones Comp., Austin, 198 S.

gelesen Januar 2023

Lehmann

"Wir töteten und skalpierten sie."

Die Autobiographie gibt Einblick in die Brutalität der "Wilden".


Es handelt sich um eine nach Jahrzehnten amateurhaft aufgezeichnete Lebenserinnerung - und nicht um ein wissenschaftliches Buch. Wäre es dies, könnte man Lehmanns Autobiographie lesen als Dekonstruktion des edlen Indianers, wie ihn etwa der Karl-May-Winnetou-Mythos geschaffen hat. Da ist gar nichts Edles, Anrührendes. Die Apachen, welche Herman als 10-jährigen Jungen geraubt und dann adoptiert hatten, sind eine brutale Räuber- und Mörderbande, deren Leben neben dem Dasein in den immer mehr von Weißen eingeengten Jagdgründen hauptsächlich aus Überfällen, Pferdediebstahl, Raubzügen, Kriegen besteht.

Egal, ob Büffeljäger, Soldaten, Texas-Rangers, Kiowas, Comanchen, mexikanische Kleinkrämer, Farmer oder Reisende - was den Apachengruppen zu Gesicht kommt, wird überfallen, getötet, ausgeraubt, gelegentlich ein Kind geraubt und versklavt:

Wir "trafen ... auf einige Mexikaner, ... unternahmen einen Blitzangriff auf sie. ... Wir holten sie ein und kehrten zu unserem Camp zurück, ihre Skalps an unseren Gürteln baumelnd. Wir nahmen uns, was wir wollten und zerstörten alles Übrige." (S. 75)

So geht das in der völlig unstrukturierten und typographisch dilettantisch dargebotenen Erzählung Lehmanns dutzendfach. Neun Jahre lang dauern dieses Raubzüge; repetitiv erzählt Lehmann davon im Stile eines Grundschülers im "Und-dann-Modus". Er gibt keine Orientierung in Ort und Zeit. Es heißt dann "wir zogen nach Norden" oder "wir gingen ungefähr hundert Meilen nach Westen" (S. 107). Was mit den Hunderten von gestohlenen Pferden geschieht, wird nicht erwähnt. Offensichtlich wird die Beute (an Mexikaner?) gegen Feuerwaffen, Feuerwasser, Lebensmittel, Stahlzeug, Feilen etc. getauscht.

Oft weiß der Leser gar nicht, was eigentlich erzählt wird, so erratisch sind die Aufzeichnungen:

"Wir blieben dort eine Zeitlang, als die Soldaten damit aufhörten, regelmäßig vorbeizukommen. Zweifellos dachten sie, dass sie uns gut im Griff hätten, doch einige von unseren Jungs stahlen ein paar Pferde und flohen und wir alle brachen auf und folgten." (S. 60)

Die Indianer leben wohl ausschließlich von Tiernahrung. Uns Zivilisierte schüttelt es dabei vor Ekel:

Kurz vor dem Verhungern - ohne Waffen, Messer, Wasser - erzählt uns Lehmann dies: Ich "fing ein paar Frösche, die ich roh aß und als Leckerbissen einstufte" (S. 93). Neben dem existenziellen Kampf gegen Weiße, Hunger, Kälte, Durst, gibt es die rohe Brutalität auch zum Zeitvertreib: top

"Unsern nächsten Sport hatten wir beim Abschlachten eines Mannes, der ein Ochsengespann fuhr. Wir töteten die Ochsen, schlürften den Pansen und die hinteren Eingeweide aus, leerten den Dickdarm mit unseren Händen, banden das Ende zu und füllten es mit Wasseer, das wir mitnehmen wollten. Wir aßen die Herzen, Lebern und Nieren warm und roh und sogen das Blut auf. Wir machten Feuer, rösteten die Rippen und bereiteten einen Festschmaus aus diesen alten Ochsen." (S. 103)

Apache skalpiert

Feinde werden getötet, gefoltert, gemartert, entwürdigt. Einem gefangenen Comanchen ergeht es so:

Cornoviste, der Häutling, "schnitt je ein Loch durch dessen Arme, zog eine Schnur aus Rohleder durch beide Öffnungen und hing den armen Burschen zum Sterben in einen Mesquitebaum, doch eine unglückliche alte Squaw ohne Nase, (Komma original!, M.S.) schlich zurück und schnitt ihn ab." (S. 53)

Warum hat die Frau keine Nase? Wer seine Squaw bei Untreue ertappt, schneidet ihr die Nase ab.
Kinder sollten am besten männlich sein, Zwillinge sind unerwünscht:

"Ich habe eine Apachensquaw gekannt, die Zwillinge bekam und so wütend darüber wurde, dass sie ihren Nachwuchs zu Tode trampelte und die kleinen Körper den Geiern zum Fraß überließ." (S. 152)

Nach einem alkoholisierten Gemetzel im Reservat, bei dem Lehmann einen Medizinmann tötet, flieht er und lebt fast ein Jahr lang als Einsiedler, um sich schließlich den Comanchen anzuschließen. Die treffen auf eine kannibalistische Tonkawagruppe, bei denen sie kein Pardon kennen:

"Eine große Anzahl der sterbenden Feinde röchelten um Wasser, doch wir beachteten ihr Flehen nicht. Wir skalpierten sie, schnitten ihnen die Arme ab, schnitten ihnen die Beine ab, schnitten ihnen die Zungen heraus und warfen ihre verstümmelten Körper und Glieder auf ihr eigenes Lagerfeuer ... und stapelten die lebenden, sterbenden und toten Tonkawas auf die Flammen. Ein paar von ihnen konnten zucken und sich wie ein Wurm winden. ... Als wir Fett und Blut von ihren Körpern rinnen sahen, tanzten wir mit großem Entzücken umher und hatten unsere Freude daran mitanzusehen und zu hören, wie die Haut poppte, als sie im Feuer platzte." (S. 134)

Nach vielen wechselseitigen Massakern erlahmt der Widerstand der Indianer gegen die überlegenen Weißen. Der Comanchen-Häuptling Quanah überredet seine Stammesbrüder, ins Reservat zu ziehen, und unseren Erzähler, zu seiner weißen Herkunftsfamilie zurückzukehren.

Zu dem Zeitpunkt (1879) hat der 19-jährige Herman hunderte Menschen und tausende Tiere getötet. Ein ziemlich schneller Assimilierungsprozess an die Methodistengemeinde gelingt ohne jede Reflexion über die grausamen Taten in den neun Jahren "bei den Indianern". Er führt sein spießiges Siedlerleben, bleibt aber im Herzen - auch staatlicherseits dokumentiert - rechtmäßiger Comanche.

Michael Seeger, 13. Januar 2023 top

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