Michael Seeger | Rezensionen | Forum |
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Peter Stamm: S. Fischer, Frankfurt 2006, 206 S., 7,95 EUR ISBN 978-3-596-17383-9 gelesen: November 2024 |
Beziehungslos - allein
Sex mit diversen Frauen rettet den beziehungsunfähigen Protagonisten nicht vor dem Gefühl der Sinnlosigkeit
In der Exposition des "Romänchens" hört der Protagonist Andreas "das Geräusch eines sich öffnenden und wieder schließenden Fensters" (S. 7). Für die Romanfigur ist das Fenster für einen radikalen Wechsel in seinem vor Routine erstarrten Leben nur kurz geöffnet. Es bleibt dann schließlich doch zu und der Leser phantasiert während einer finalen Umarmung mit der eine Generation jüngeren Delphine in den Wellen des Atlantik doch eher den nahen Lungenkrebstod als den Beginn neuen Lebens.
Der Schweizer Andreas hat sein Heimatdorf am Bodensee und seine Jugendliebe Fabienne verlassen und lebt in Paris als routinierter Deutschlehrer. Nach 18 Jahren durchgetakteten Lebens zieht er nach einer Biopsie - ohne den Befund zu kennen - einen Schlussstrich: verkauft seine Wohnung, kündigt an der Schule, verschenkt seine Sachen (bis auf eine Diana-Plastik) und irrt noch einmal durch diverse Beischlafsituationen. Wie hieß noch mal die Frau? Fabienne? Nadja? Sylvie oder Delphine? (Dann kehrt er in sein Schweizer Heimatdorf zurück und nimmt dabei Dephine mit, die mit diesem Retro-Trip gar nichts anzufangen weiß.) Dass er beim Akt etwas spürt, ist nicht übermittelt, jedenfalls will er danach am liebsten allein sein. Was diese (jüngeren) Frauen an ihm finden, verrät uns der unzuverlässige Erzähler nicht. Geboten wird nur die gelangweilt-sinnentleerte Perspektive von Andreas. Alles erinnert an das Ennuit-Thema im 19. Jahrhundert. Und alles erinnert an Agnes und andere Romane von Stamm: Wie der Protagonist seine Frauen instrumentalisiert, wie er Fiktion (in der Literatur) und Realität sich vermischen lässt1. Wie die Männer nicht - jedenfalls nicht mit Sex - aus ihrer beziehungsunfähigen Einsamkeit herausfinden.
"Er fragte sich, ob er wirklich nicht gemacht war für längere Beziehungen." (S. 167)
"Er mochte die Leere der Wiederholung." (S. 10)
Das alles klingt nicht nach Werbung für das Buch. Stark ist aber die Erzählweise: Stamm gelingt es, von einer Reflexion, einer Erinnerung seines Helden oder von der Figurenrede überganglos vom Jetzt-Plot in die Vergangenheit der Figur zu wechseln und diese zu vergegenwärtigen: stark!
Deplhine erzählt von einem Campingplatzerlebnis im Alter von 10 Jahren:
"Man nahm an, dass es Brandstiftung war. Es wurde tagelang von nichts anderem gesprochen. Aber ich weiß noch, wie ich dachte, uns kann nichts geschen. Uns findet niemand hier.
Auf dem Campingplatz hatte Delphine schwimmen gelernt und surfen, hier hatte sie sich zum ersten Mal verliebt...." (S. 134)
Ja, das ist ja erzähltechnisch ganz nett. Aber reicht das? Nein! Auf der anderen Seite ist das Buch aber auch schnell gelesen ohne dass man Schaden dabei nähme.
1 "Es ist dieselbe Geschichte", sagte er. "Ist das nicht verrückt?". "Aber deine ist schlecht ausgegangen." (S.24)
Michael Seeger, 17.11.2024
© 2013-20204 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 17.11.2024