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Moses I. Finley

Die Welt des Odysseus

übersetzt v. Anna-Elisabeth Berve-Glauning

New York 1954, dtv 4328, München 1979, 200 S. 9,80 DM

(vergriffen)

ISBN 3-423-04328-8

(wieder) gelesen 1984 / Februar 2021

Finley

Geschichten oder Geschichte?

Der Grandseigneur der Altertumswissenschaft nimmt die Mythen als historische Quelle

und zeichnet ein lebendiges Bild der achaiischen Verhältnisse.

Die mündliche Überlieferung durch Sänger rekonstruierend kommt Finley zu der erstaunlich freimütigen Präambel, dass nämlich das vom Dichter übermittelte Material "es uns möglich macht, sein Material als den Rohstoff für eine Untersuchung (...) einer Welt der Geschichte und nicht der Dichtung zu behandeln." ( S. 48) Und so erzählt er uns aus der Welt des Odysseus von Besitz und Arbeit, Oikos, Familie und Gemeinschaft, von Sitten und Werten und fördert dabei erstaunliche Tatsachen zu Tage. Mitverantwortlich für die gute Lesbarkeit ist die hervorragende Übersetzung.

Geradezu unverfroren taucht der Historiker dabei in die Mythen ein und materialisiert sie dergestalt, dass er von Homers Figuren einschließlich der Götter im Präteritum schreibt, also im Duktus einer Erzählung von realer Geschichte, nicht von fiktiven Geschichten. Die geschilderten Tatsachen werden stets abgeglichen mit anderen Erkenntnissen über die antike Welt der Archaik. Hesiod gibt dabei immer wieder das Korrelat.

Die 1186 Schiffe der Achaier vor Troia verweist Finley ebenso ins Land der Übertreibung wie die 400.000 Sarazenen im Rolandslied. Unserer Erwartung, Homers Epen irgendwie mit den Kategorien des uns vertrauten klassischen Griechenlands zu fassen, wird eine klare Absage erteilt:

"Keins der Gedichte enthält (...) nur eine Spur einer Polis im klassischen Sinn". (S. 31)

Es handelt sich vielmehr um archaische Narrative, um eine Welt, in der es kein Gemeinwesen gibt, in der die Heroen privat als Egos handeln, für sich und ihren Oikos, allenfalls eingebunden in Familie; eine Welt ohne Moral, Schuld und Sühne, eine Welt der Taten, nicht der Ideen, eine Welt, in der der Sinn des Krieges ein Beutezug ist, bei dem die besiegten Männer getötet und als wichtigste Beute neben den Kleinodien die Frauen geraubt und versklavt werden. Und der Zorn des Achill um seine von Agamemnon usurpierte Sklavin Briseis ist ja auch bekanntlich der Beginn der Ilias.

(Gast)Geschenke, die bei Homer eine große Rolle spielen, sind Mittel der Diplomatie, erheischen Gegengeschenke bis hin zu Gefolgschaft und haben gelegentlich eine Nähe zur Bestechung. Frauen erfahren über ihre Geschlechtsgenossinnen Ernüchterndes: Das Weib spielt in dieser archaiischen Gesellschaft überhaupt keine Rolle: Es ist Gebärerin. Ist die Frau adelig, dann arbeitet sie im Gegensatz zu Theten und Sklavinnen "nur zum Zeitvertreib" ( S. 74): sie näht, webt (Penelope!), spinnt, kocht. Über Besitz verfügt sie nicht. Das Symposion bleibt eine exklusive Angelegenheit der adligen Männer.

Das A-Moralische der Heroen spiegelt sich in der "Gleichgültigkeit der homerischen Götter gegenüber der Moral. (...) Ohne Sünde konnte es aber auch nicht die Idee des Gewissens geben, kein Gefühl moralischer Schuld". (S. 145).

Das ist mit ein Grund, warum der Morallehrer Platon den Dichter Homer so massiv ablehnte.

Die antike Homerrezeption war eine Angelegenheit der Aristokratie, welche ihre aktuellen Machtansprüche in den Taten der homerischen Heroen gespiegelt sah. Mein Schüler Lars Hübner zeigt in seiner Dissertation zur Homerrezeption1 sehr schön, wie in der Zeit der Perserkriege, als die "Plataiomachoi" unter nicht unbedeutender Leistung der Theten den Sieg errangen, der demos sich die Homerischen Epen quasi erinnernd aneignete.
Ich gehe einen Schritt weiter mit der These: Im Zuge der politischen Entwicklung in Griechenland, speziell in Athen (Isonomie), demokratisiert sich das kollektive Gedächtnis in Bezug auf Homer: "Wie die Achaier in Troia gesiegt haben, konnten wir als "laos" bzw. als "demos" die persische Übermacht bezwingen!"

1 Lars Hübner: Homer im kulturellen Gedächtnis. Eine internationale Geschichte archaischer Homerrezeption bis zur Perserkriegszeit. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2019

Michael Seeger, 22. Februar 2021

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