Michael Seeger | Rezensionen |
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Friedrich Nietzsche:Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik(1872)Carl Hanser München 1967, Lizenzausgabe für Bertelsmann: Werke in zwei Bänden Bd. I, S. 7-110, (wieder nach 1968) gelesen April 2023 |
Hatten sich nicht Winkelmann, Goethe, Schiller (>> "Über die ästhetische Erziehung des Menschen") engagiert, ausführlich und eigentlich auch abschließend (>> Schiller) mit der Antikerezeption befasst und sich an den Griechen abgearbeitet? Offensichtlich nicht. Der junge Basler Professor Nietzsche musste tatsächlich ein Gleiches tun.
Berühmt - geradezu legendär - sind die für ihn konstitutiven Kunsttriebe, das Apollinische und das Dionysische, geworden und geblieben.
Von den dionysich-lyrischen Dithyramben eines Archilochos zieht Nietzsche die Spur über den Epiker Homer zu den drei großen Tragödiendichtern. Von Aischylos über Sophokles sieht er eine Abwärts-, bzw. Verlustbewegung hin zu Euripides, dergestalt, dass das Dionysische, der musikalische Rausch, mehr und mehr zurückgedrängt wird. Bei allem schwärmerischen Lob für die dithyrambische Musik frage ich mich, mit welchen Quellen/Kopfhörern/Sinnen Nietzsche diese Musik erlebt. Haben wir doch keine Noten davon!
Ähnlich wie bei Schiller geht für Nietzsche durch die Kulturentwicklung eine ursprüngliche "Ur-Einheit" verloren, welche es nur im Mythos geben kann. Ja, das "Ur"! Es begegnet uns auf jeder Seite in diesen Ausprägungen: "Urbrei, Urwesen, Urproblem, Urmutter, Urwelt, Urmensch, Urquell, Urheimat, Urleiden, Urfreude, das Ur-Eine, Urphänomen, Ursitz, Urtrieb, Urbild, Urlust ...." So viel Geraune um das "UR"! Warum diese Sehnsucht? Warum - auch noch 1872 - die Imagination eines nahezu perfekten Urzustandes bei den idealistisch-postulativ überhöhten Griechen? Bei Schiller kommt es aus dem Leiden an der Gegenwart; ich vermute bei Nietzsche eine ähnliche Motivationslage.
Die Geschichte blitzt gelegentlich auf: Perserkriege, Luther, Napoleon, Sozialismus, Deutsch-Französischer Krieg 1870/71 ("blutige Gloriole" S. 109) Es geht aber eigentlich um die Kunst, eine Domäne, welche wie bei den Klassikern gerade vor der Geschichte schützt, diese zurückdrängen, überwinden kann.
Im Fortgang der Ratio ist im Anschluss an Euripides in Sokrates der "Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen". (S. 71). Der kritische Hinterfrager wird zum "Urbild des theoretischen Optimismus" (ebd.). Die immer stärker vorrückende Wissenschaft drängt die Kunst, darin vor allem den dionysischen Pol, zurück. Eine neue Form der "griechischen, alexandrinischen Heiterkeit" bekämpft "die dionysische Weisheit und Kunst", trachtet "den Mythos aufzulösen", setzt einen "eigenen deus ex machina, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel" (S. 81). Mit dieser fast schon larmoyanten Klage über die Industrialisierung sind wir in Nietzsches Gegenwart angekommen. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: "die deutsche Musik" (S. 85) Und, was wir schon ahnten: In Wagner, paradigmatisch im Tristan, materialisiert sich "der Bruderbund beider Gottheiten: (...)
Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache Dionysus': womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist." (S. 98)
Wir wissen ja, wohin Nietzsches Welt führt. Ich habe mich oft gefragt, was Wagner und Nietzsche dafür können, dass Hitler sie mochte. Beide sind nicht unschuldig daran:
"Wenn der Deutsche zagend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat zurückbringe, (...) so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen" (S. 105).
Dass der lockende Ruf des Vögelchens dann im Gebrüll und Untergangsrausch der Führer Hitler und Göbbels endete, konnte Nietzsche nicht wissen.
Wir aber - dem Bacchantischen durchaus angetan - schöpfen Verdacht, wenn der dionysische Rausch und das Ur-Raunen hingebungsvoll gefeiert werden und lassen uns gerne als "theoretisch-sokratischer Mensch" (S. 85 passim) verspotten.
Michael Seeger, 18.04.2023
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