Michael Seeger Rezensionen Forum

 

Karl Kraus:

Die letzten Tage der Menschheit

Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog (1915-1926)

© 1957 Kösel-Verlag, hier: 2 Bände dtv 5323/4 München 1964

335 und 315 S., je 9,80 DM

ISBN: 3-423-05323/4-2/0

gelesen April 2024

cover

Zum Zynismus gesteigerte Satire

 

Die Lektüre ist eine Verneigung vor dem Großsatiriker KK während eines Wien-Besuchs. Manchmal glaubt man als Flaneur, jetzt käme eine der zahllosen Gestalten dieser unspielbaren Tragödie um die Ecke. Die Lektüre hätte gut ins Jahr 2014 gepasst. Jetzt 2024 wirkt das Buch wie ein böser Kommentar auf Putins Angriffskrieg.

Kraus lässt eine völlig enthumanisierte und militarisierte Gesellschaft auftreten. Ich sehe in den skurrilen Figuren ständig die Karikaturen eines George Grosz (>>). Es ist mehr als "dem Volk aufs Maul geschaut". Die grausam-kriegerische Wirklichkeit des Ersten Weltkrieges ist hier zur Kenntlichkeit entstellt. Die Preußen-Deutschen sind nicht weniger brutal als die Österreicher ... stets beschwören beide die Nibelungentreue und den Endsieg. Mütter wetteifern über Kriegsspiele für ihre Kleinen und loben das neue Brettspiel "Russentod". Offiziere wollen die Mannschaften auf den Schlachtfeldern, den "Feldern der Ehre", krepieren sehen, was schließlich ihre patriotische Pflicht sei. Lazarett-Ärzte flicken die Verwundeten nur notdürftig zusammen, weil sie schließlich nicht im Krankenhaus, sondern an der Front sterben sollen. Schon vor über hundert Jahren erkannte Kraus die fatale Funktion der Propaganda in den Zeitungen.

Da angesichts der immer näher kommenden Niederlage den Herren die Feinde zum Töten ausgehen, bringen sie eben die eigenen Leute als Deserteure etc. um. Viele Szenen spielen in Standgerichten: Einen für schuldig befundenen Familienvater möchte man lieber nicht hinrichten, "da musset ja das Ärar für die Hinterbliebenen zahlen. ... also bleiben nur die zwei jungen Burschen zum Erschießen. Wern scho was angstellt haben. Tun sie's heut nicht, täten sie's morgen. Unschuldig hin, unschuldig her - ein Exempel muß schtatuiert wern" (Bd. 2, S. 260).

So gehts bei den Österreichern zu. Und bei den Preußen? Die lassen sich nicht lumpen.
DER DEUTSCHE GENERALSTABSOFFIZIER lobt den Gaskrieg: "Da haben wir doch an einem Tach weit mehr vergast als ihr in 'nem ganzen Jahr! Bei Ausräuchern von letzten Franzosennestern, weißen und farbigen Engländern und so. Jawoll - unsre deutsche Handgasbombe! Da verspritzt sich die Giftmasse und erzeugt eiternde Wunden, mit 'ner Absonderung wie 'n richtichgehender Tripper. (Heiterkeit) Nanu? das ist wissenschaftlich einwandfrei festjestellt. Der Mann ist erst am andern Tach kaputt." (S. 256)

Aufatmen kann der entsetzte Leser bei den (moralisierenen) Analysen des NÖRGLERS, der zweifelsohne als alter ego des Autors fungiert.

Im EPILOG kommt es dann - gereimt - ganz dicke. Er erinnert stilistisch an die Schlussszene BERGSCHLUCHTEN im zweiten FAUST. Nur kommen die Stimmen und Choräle nicht von oben, nur wird hier niemand erlöst; vielmehr wird im Reich des Teufels und des HERRN DER HYÄNEN infernalisch weiter Blut geleckt, ja gesoffen!

Am Ende der Tragödie sagt

"DIE STIMME GOTTES:

Ich habe es nicht gewollt." (S. 308)

Grosz Stützen der Gesellschaft

George Grosz:
"Die Stützen der Gesellschaft"

Michael Seeger, 03. Juni 2024

 © 2002-2024 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 09.06.2024