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Alfred KerrWo liegt Berlin?Briefe aus der Reichshauptstadt 1895-1900
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„Das Leben ist wundersam und zaubervoll
und hinreißend und in Schönheit strahlend
und selig und magisch und gaukelnd
und unergründlich.“ (S. 590)
Ich gehe ins Kino, bin fasziniert von Caloline Links wunderbarer filmischer Umsetzung eines Jugendbuches, eben des berühmten rosa Kaninchens von Judith Kerr. Wie üblich recherchiere ich zu Hause über die Autorin, dann natürlich über ihren berühmten Vater, streife dabei meine Bücherregale ... Was fällt mir erst in die Augen, dann in die Hände: Alfrad Kerrs "Briefe aus der Reichshauptstadt". Da stehen sie seit über 20 Jahren, ungelesen - jungfräulich vernachlässigt - und gieren nach meinen lesenden Augen: "Komm, Kröte!" (S. 590)
Stilistisch so ähnlich - natürlich besser! - entfaltet der europäische Flaneur mit kunstvoll ziselierender Feder ein Portrait der Reichshauptstadt, die sich nach der "Reichsgründung" 1871 dynamisch und prometheisch zur Weltstadt entwickelt. Der erst 28 Jahre alte junge Kritiker schreibt für die Sonntagsausgabe der Breslauer Zeitung, also für seine Heimatstadt, wo man aus der Provinz nach den genüsslich zu konsumierenden Berichten vom Nabel der Welt lechzt. Es ist großes Feuilleton im besten Sinne, heute undenkbar und deswegen bewundernswert, auch verlegerisch. Da plaudert der Augen- und Ohrenzeuge über seine Beobachtungen im Theater, im Reichstag, auf der Straße, bei der Gala, im Gerichtssaal .. und - nicht unbescheiden - über sich selbst. Aus schier endlosen Einzelbeobachtungen, quasi mit Worten photographiert entsteht ein eindrückliches Bild Berlins: seiner (Um)Bauten, seiner Repräsentanten in Kultur und Politik, seiner (geistigen) Atmosphäre, seiner Menschen. Bei aller Kritik und Ironie überwiegt der Fortschrittsoptimismus, welcher für die Jahrhundertwende so charakteristisch ist. Die kritische Distanz Kerrs zur Sphäre der Macht, der Demagogie und geheuchelter Moral lässt schon 35 Jahre ante festum spüren und erwarten, dass dieser bürgerlich-liberale jüdische Freigeist zum entschiedenen Gegner der Nazis werden musste. Oder besser andersherum: Die Nazis erkannten früh, dass er als einer der ersten auf ihre Abschusslisten gehört.
Das 2. Deutsche Kaiserreich ist modern und zugleich rückwärtsgewandt-altmodisch. Diese Ambivalenz kristallisiert sich im jungen Monarchen Wilhelm II. Er ist insbesondere Objekt von Kerrs Spott. Vor allem wird sein künstlerischer Geschmack, sein Großmannsgetue, sein Hang zur Zensur angegriffen. Offensichtlicht konnte Freiherr Ernst v. Mirbach, Oberhofmeister der Kaiserin, jede gegen (seine) christliche Moral gerichtete künstlerische Darstellung verbieten lassen:
"In Deutschland wird jetzt alles verboten. ... Parsifal ist ein geistliches Werk. ... Aber das Werk scheint nicht geistlich genug für unsere andächtiglichen, gottesfärchtigen preußischen Behörden. Die Absingung wurde verboten. Daß die Königl. Oper überhaupt, als eine Stätte der Lust, und das hiermit verknüpfte Balletcorps, als ein Regiment des Teufels, nicht abgeschafft wird, verwundert manchen." (S. 639)
Die analytische Schärfe macht Freude:
"Der Massenhaß Nietzsches ist nur ein Syptom für die tatsächliche Demokratisierung der Welt. Der Antisemitismus ist ein Symptom für den tatsächlichen Wohlstand der Juden." (S. 583)
Ohne sich anzubiedern oder gar sich zu verbrüdern gehört seine politische Sympathie der aufstrebenden Sozialdemokratie, der Partei der Zukunft. Nach Wilhelm Liebknechts Begräbnis entwirft Kerr diese Hommage auf August Bebel:
"Von der beschränkten Persönlichkeit des Heimgegangenen hebt sich jetzt der andere ab, der übrigbleibt als erster Führer: Bebel. Wer je mit ihm zusammen war, hat die geistige, ja die seelische Macht dieses ungewöhnlichen Menschen gespürt. Er hat etwas im Wesen, das alle besten Deutschen im Wesen gehabt haben müssen. Der Mann ist abgeklärt und zugleich voll Leidenschaft. Das Eingedämmte und Beherrschungsvolle seines Wesens zeigt jene Milde, die im Hauptmannschen Geyer-Florian steckt und die mit einem Schlage menschlich für sich gewinnt. Es ist der besondere Takt reifer Kultursöhne, welche von den mittelhochdeutschen Dichtern die »Maaße« genannt wurde. Man fühlt hindurch das Glühende dieses Rheinländers, ohne welches führende Köpfe ja nicht denkbar sind. Man fühlt auch, daß eine besondere Ethik, eine verfeinerte, gesänftigte, reine - nicht als theoretischer Begriff - von ihm aufgenommen wurde; sondern daß sie in seinem Blute fließt. Er hat den Adel derer, die an sich gearbeitet haben. Er ist ein stiller Sieger in seiner Welt, ohne zu einer faden, beruhigten Harmonie gelangt zu sein. (…) Singer ist ein gutmütig-grober, humaner Mensch, nicht ohne Repräsentiersucht, voll Tüchtigkeit in der Erledigung von Massenangelegenheiten - immer mit einem Beigeschmack nach Wohltätigkeitsverein. Die tiefste, reichste, seelisch am höchsten entwickelte Natur bleibt August Bebel, der ein Führer nicht nach Anciennetät ist, wie der verstorbene Liebknecht es war, sondern nach innerem Recht, auf Grund einer unverbraucht bestehenden Kraft. Er zehrt nicht vom Martyrium, sondern von Leistungen. Er zahlt nicht mit der Vergangenheit, sondern mit dieser Gegenwart. Er ist eine Ziffer, der andere war eine Null. Und darum soll er uns willkommener sein." (S. 608f)
Im Margarethe von Trottas Film "Rosa Luxemburg" (1986) sagt Barbara Sukowa als Rosa bei der Jahrhundertfeier: "Aujust, ick liebe dir!". Dem ist nichts hinzuzufügen.
Michael Seeger, 14. Januar 2020
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