Michael Seeger Rezensionen Forum

Günter Grass, Hundejahre

1963, Sammlung Luchterhand 149 (heute dtv), 473 S.

ISBN 3-472-61149-9

gelesen April – August 2015

 

der alte Grass

 

Uff – geschafft! Nach qualvollen Hundewochen – denn leichte Kost, gar ein Zuckerlecken, war die Lektüre nicht. Es war eine Verneigung vor dem am 13. April 2015 verstorbenen Autor. Damit habe ich meine Grass-Lektüre vervollständigt.

der junge Grass

 

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So mag Grass ausgesehen haben,
als er den dritten Teil der
Danziger Trilogie verfasste.

 

Immer wieder hat er betont, dass für ihn die Hundejahre das wichtigere Buch sei, nicht die allseits gefeierte Blechtommel.

Mir aber ging es wie der Kritik im allgemeinen: Von der Blechtrommel schwärmerisch begeistert mussten die Hundejahre ein halbes Jahrhundert im Bücherregal darben, ehe der Tod des 87-jährigen den Anstoß zur Lektüre gab.

 

Pralle Sprachakrobatik - fehlende erzählerische Stringenz

Schon 1963 hat Grass eine beeindruckende NS-Aufarbeitung geleistet

Die Lektüre fließt nicht, weil der Roman nicht fließt, keine echte – gar lineare – Handlung aufweist, jeglichen Spannungsbogen vermissen lässt, in seiner komplexen Verschachtelung des Plots und der Figuren (Matern, Amsel, Harry Liebenau, Tulla, Jenny) und deren Metamorphosen, der Undurchsichtigkeit der fiktiven Erzähler, die gelegentlich auch in die (autobiographische) Ich-Form mutieren, der nur mühsam durchschaubaren Konstruktion des Romanganzen, das eher von Wortakrobatik als von einem stringenten roten Faden zusammengeschnürt wird, eher einem Sprachexperiment als einem bannenden Fabulieren gleicht. Der „gemeine Grassfreund“, der das Eintauchen in die gewohnte Welt des magischen Realismus sucht, muss sich also umgewöhnen. Ich habe mich umgewöhnt – mit Mühe und schließlich mit Gewinn.

MEOK1 meint, so ein Buch könne nie mehr geschrieben werden! Was die Sprache betrifft, gewiss. Sind es 20.000 oder 30.000 Wörter samt aller Neologismen? Eine pralle barocke Sprachpracht breitet der Autor vor uns aus. Wörter – nie gehört – und auch schon wieder vergessen. Sie bebildern höchst anschaulich die Welt der Gegenstände, die Grass bis ins Detail teils erinnert, teils erforscht hat. Was wir da alles im Detail über Bergwerkstechnik, Mühlentechnik, Getreidesorten, Geschäfte in Danzig-Langfuhr erfahren! Enzensberger meint dazu: „Von dem Riesenpensum dessen, was zu meinen Schulzeiten Heimatkunde hieß ..., erspart uns der Romancier kein Krümelchen.“[2] Dieser Pleonasmus wird noch dadurch gesteigert, dass Grass jeweils erzählt, was alles nicht gemacht wurde, nicht zu sehen war, was es nicht gab. Dieses Füllhorn ist also genau das Gegenteil von der Kanzlerin „Alternativlosigkeit“. Es seien einige Beispiel aus dem Bergwerkskontext zitiert, die sich allesamt auf nur einer Seite (456) finden: "Schrapperkasten, Hasplebetrieb, Firstenkammer, Mottenfraß, Mottensilber, laugenschrapperundmottenverunglimpfte Stoffe, Schnittmustervorlage, Probesand, Greiferscheiben, Kettenmitnehmer, Schubstangen, Kreiselwipper, Seilbühne, Bewetterung, Kammerhals, Karbitgeleucht, Versatzsohle ....“ Mit diesen Nomen haben wir aber nur die Welt der Dinge markiert, eine Dingwelt, die praller und differenzierter als Lenzens „Heimatmuseum“ ist. So liebevoll und detailverliebt die Gegenstände vor uns erscheinen, so blass – geradezu schemenhaft – bleiben die Personen. Stilistisch herausstechend im Bereich der Verben, die gerade geeignet wären, den Menschen Gesicht zu geben, sind die Ellipsen, das Auslassen der (finiten) Verbformen (Infinitiv, Partizip Perfekt): „Möchte mal wissen, was sich der Wirt dabei.“ (363). Klar, der Leser ergänzt mühelos. Was aber steckt hinter diesem Stil? Zeigt es in der Sprache die durch die Nazizeit verkrüppelten, nur fragmentarisch identitären Menschen?

Erzähltechnisch verschmelzen häufig auktorialer Erzählbericht mit personalen inneren Monologen der Figuren, wie wir das aus der Collagetechnik A. Döblins (> Alexanderplatz) kennen. Döblin ist ja bekanntlich ein Vorbild für Grass!

Und wovon handelt der Roman eigentlich? Von einer Kindheit im geopolitisch seltsamen, durch den Versailler Vertrag geschaffenen Danzig, davon, wie der aufkommende NS sich auch in kommunistisch gesinnte Menschen (Matern) einschleicht, wie er zum Täter auch seinem Freund gegenüber wird, dem Halbjuden Amsel, wie dieser sich als Künstler (Vogelscheuchen, Ballett, Fronttheater) durch die Terrorherrschaft durchschlängelt. Ganz massiv – im dritten Buch, den sogenannten „Materniaden“ – beschreibt, kritisiert, karikiert Grass die Verlogenheit der bundesrepublikanischen „Demokratie“: Nach Entlassung aus der SA fliegt Matern wegen falscher Gesinnung auch aus dem Düsseldorfer Sportverein und dem WDR! Es geht um die Verleugnung der Schuld, die gescheiterte Entnazifizierung, die steckengebliebene Wut über die Nazis, das verkorkste Leben, sich selbst. Deswegen war Grass dieses Buch so wichtig, deswegen wollte es kaum einer lesen und sich stattdessen lieber von Oskar Matzerath – der in den Hundejahren immer wieder erscheint -  humorvoll volltrommeln lassen.

Philosophisch gestattet sich Grass nicht nur Exkurse. Er bringt die volle Breitseite gegen Heidegger und seine Nazi-Verschlungenheit, die da nichtet! Fast schon leitmotivisch karikiert er dessen zum Nihilismus sich neigende Sprache. Das stärkste Kapitel ist für mich, wie die Wahrnehmung des Geruchs verbrannter Leichen aus dem benachbarten KZ Stutthof in Heideggerscher Sprache erzählt wird. Bitter für mich Schwarzwälder stößt allerdings Grass Irrtum auf, wenn er – mehrfach – Heideggers Skihütte nach Todtnau statt nach Todtnauberg platziert. Eher eine Groteske ist es, wenn kurz vor der Kapitulation der Hund des „Erbauers der Reichsautobahn“ Prinz aus dem Führerbunker desertiert und – vergeblich -  alle militärischen Mittel des Endkampfes aufgewendet werden, seiner habhaft zu werden.

Die Intertextualität hat über Heidegger hinaus zahlreiche Facetten. Geradezu leitmotivisch sind – um ein grassches Lieblingswort zu gebrauchen – „geläufig“: Das Nibelungenlied, Faust II, immer wieder Schillers Räuber. Boccaccios Decamerone blitzt auf, wenn es heißt „Erzählt Kinder, erzählt! ... Denn solange wir noch Geschichten erzählen, leben wir.“ (445). Und im Schlusskapitel glüht das Inferno aus Dantes Divina Comedia. Der Wächter aber muss unten im Bergwerk bleiben, und soll „dennoch nicht Cerberos heißen. Der Orkus ist oben!" (473)

Wegen seines unsäglichen Israel-Gedichtes (2012)[3] wurde Grass des Antisemitismus geziehen. Völlig absurd! Wer es wissen will, lese in den Hundejahren nach!

Für manchen Grass-Enthusiasten – wie mich -  war andererseits die zu späte Selbstentdeckung als Waffen-SS-Soldat „Beim Häuten der Zwiebel“ eine herbe Enttäuschung. Wir urteilten: Erst jetzt, nachdem er den ersehnten Literaturnobelpreis erhalten hat! Dabei hat Grass doch in den Hundejahren eine umfassende (Selbst)aufarbeitung der NS-Verstrickung vorgelegt. Walter Matern trägt ja viele autobiographische Züge. Der Autor hätte ihn nur etwas konkreter als Freiwilligen in die Waffen-SS eintreten lassen müssen, dann hätte er – elegant – alles geleistet, was man 1963 vermochte.


[1] Name der Redaktion bekannt

[2] http://m.spiegel.de/spiegel/print/d-46171743.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-zum-konflikt-zwischen-israel-und-iran-was-gesagt-werden-muss-1.1325809

Michael Seeger, 27. August 2015

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